Donnerstag, 28. März 2024

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Gefahr von Stellvertreterkriegen im Irak sehr groß

Alle amerikanischen Truppen haben den Irak verlassen. Die irakische Regierung solle nun selbst für seine Sicherheit sorgen, aber eine Anschlagsserie in Bagdad forderte etwa 60 Todesopfer. Nahostexperte Michael Lüders sagt, dass vieles dafür spreche, "dass diese Regierung ebenso wie das Land auseinanderbrechen wird".

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 22.12.2011
    Dirk-Oliver Heckmann: Am Telefon begrüße ich den Nahostexperten Michael Lüders. Schönen guten Tag, Herr Lüders!

    Michael Lüders: Schönen guten Tag, Herr Heckmann. Hallo!

    Heckmann: Herr Lüders, ich habe gerade eben das Zitat von US-Verteidigungsminister Panetta schon gebracht. Das Ziel sei in greifbare Nähe gerückt, dass der Irak für seine Sicherheit sorgen könne. Diese Aussage war pure Illusion, oder?

    Lüders: Ja, in der Tat. Die amerikanische Regierung hat natürlich ihre eigene Sicht auf die Dinge und muss der eigenen Öffentlichkeit in den USA und der Weltgemeinschaft natürlich diesen Krieg als einen Erfolg verkaufen. Aber man muss sagen, wie ja auch in dem Bericht schon angeklungen ist, dass dieses Experiment bislang jedenfalls nicht gelungen ist. Der entscheidende Grund ist das Zerwürfnis zwischen Sunniten und Schiiten und die Krise, die der Irak jetzt durchlebt. Das ist die schwierigste und ernst zu nehmendste Regierungs- und Staatskrise seit dem Sturz von Saddam Hussein. Die Regierung ist nicht in der Lage – sie ist ja ohnehin wenig mehr als eine Fassadendemokratie, die sie bedient -, diese Regierung ist nicht in der Lage, dem Land eine Perspektive zu geben, die Sicherheitskräfte so zu sortieren, dass sie auch für Ruhe und Ordnung im eigenen Land sorgen könnten. Und vieles spricht dafür, dass die regionalen Tendenzen in diesem Land, sich möglichst unabhängig von Bagdad verwalten, zunehmen werden.

    Heckmann: Die Amerikaner sind also zur Unzeit abgezogen?

    Lüders: Na ja, ehrlich gesagt: Selbst wenn sie noch zwei, drei oder zehn Jahre geblieben wären, es ist ähnlich wie in Afghanistan. Man kann natürlich eine beliebige Zahl von ausländischen Soldaten über einen sehr langen Zeitraum dort stationieren, aber die Grunderkenntnis muss lauten, im Irak wie auch in Afghanistan, dass eine ausländische militärische Intervention, egal wie mächtig die dahinter stehenden Staaten sein mögen, nicht in der Lage ist, politische Verhältnisse zu schaffen, die wirklich demokratisch und pluralistisch wären. Denn zum einen müssen die Iraker erst einmal Demokratie von der Pieke auf selber erproben nach Jahrzehnten der Saddam-Hussein-Diktatur. Und zum anderen ist die Regierung Nuri al Maliki im Irak genau wie die afghanische Regierung sehr manipuliert, sie ist durch Wahlbetrug wesentlich an die Macht gekommen. Und sie betreibt keine nationale Interessenspolitik, sondern Klientelpolitik, vor allem zugunsten der Schiiten im Irak. Und dies natürlich in enger Anbindung mit den neuen Freunden in der islamischen Republik Iran.

    Heckmann: Die irakische Justiz hat also einen Haftbefehl erlassen gegen den sunnitischen Vizepräsidenten Tarik al-Haschimi, weil dessen Leibwächter in Anschläge verwickelt sein sollen. Ministerpräsident Maliki fordert auch die Entlassung seines sunnitischen Stellvertreters Mutlaq. Sunniten, Schiiten und Kurden scheinen also wieder anzufangen, sich zu bekämpfen. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem neuen Bürgerkrieg kommt?

    Lüders: Zumindest sehen wir jetzt einer weiteren Phase der Instabilität entgegen. Diese Anschlagsserie heute ist ein Hinweis darauf, dass die Sunniten, sunnitische Extremisten, auf deren Konto vermutlich die Anschläge heute in Bagdad gehen, nicht gewillt sind, ihrer politischen Marginalisierung tatenlos zuzusehen. Sie glauben, mit terroristischen Mitteln politische Macht zurückerobern zu können. Es ist abzusehen, was jetzt passiert: Nun werden schiitische Extremisten ihrerseits in sunnitischen Wohnvierteln Massaker anrichten. Und das ist eine Spirale, die eigentlich nur in Richtung Abgrund führen kann. Nuri al Maliki hat sich verschätzt, er hat geglaubt, dass er im Windschatten des amerikanischen Abzuges und des sich abzeichnenden Bürgerkrieges in Syrien seine eigene Machtposition stabilisieren und ausbauen könnte auf Kosten der Sunniten. Diese Gleichung wird vermutlich nicht aufgehen. Nuri al Maliki ist leider nicht in der Lage – dazu fehlt ihm das politische Format -, dem Irak eine Perspektive zu geben. Und deswegen spricht vieles dafür, dass diese Regierung ebenso wie das Land auseinanderbrechen wird.

    Heckmann: Wie kann diese Spirale nach unten oder wie könnte sie denn aufgebrochen werden?

    Lüders: Das ist ganz schwierig zu erreichen, weil die Iraker einander abgrundtief misstrauen. Die Sunniten trauen den Schiiten nicht über den Weg, die Kurden im Norden haben sich von den arabischen Brüdern im Süden de facto losgelöst und haben schon einen halb unabhängigen Staat, der jederzeit auch die eigene Unabhängigkeit ausrufen könnte, sobald man der Türkei versichert hat, dass daraus keine Probleme erwachsen für die Kurden in der Türkei selbst. Es ist alles denkbar. Die Einflussmöglichkeiten von außen sind nicht gegeben. Es ist sogar zu befürchten, dass in nicht ferner Zukunft die Unruheherde Irak und Syrien sich verbinden. Und das wäre dann in der Tat ein sehr gefährlicher Sprengsatz.

    Heckmann: Ich wollte gerade sagen: Die größte Wahrscheinlichkeit ist, dass das Land auseinanderbricht, haben Sie gerade gesagt. Mit welchen Folgen für die Region?

    Lüders: Der Irak ist ja einer der flächenmäßig größten Staaten im Nahen und Mittleren Osten. Und wenn dieses Land auseinanderfällt oder wenn sich ein Machtvakuum abzeichnen sollte, das geradezu danach verlangt, gefüllt zu werden, dann stehen die potenziellen Akteure natürlich schon Gewehr bei Fuß, im wahrsten Sinne des Wortes. Das sind der Iran selbstverständlich, das ist die Türkei, das ist Saudi-Arabien, das sich traditionell als Schutzmacht der Sunniten im Irak versteht. Und deswegen ist eben die Gefahr auch sehr groß, dass wir im Irak dann Stellvertreterkriege sehen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, die beide eine Führungsrolle in der Region anstreben und einander spinnefeind sind. Das ist eine wirklich gefährliche Eskalation. Es würde jetzt nur noch fehlen, dass die USA und oder Israel auf die Idee kommen, den Iran anzugreifen. Dann ist wirklich in dieser Region nichts mehr unter Kontrolle und das würde dann eine Endlosspirale nach sich ziehen, die niemand mehr kontrollieren kann in Richtung Gewalt und Terror. Also, man muss hoffen, dass sich die Dinge irgendwie fügen, aber ehrlich gesagt: Niemand hat da ein Patentrezept.

    Heckmann: Blicken wir noch auf Syrien, Herr Lüders. Dort spitzt sich die Lage ebenfalls immer weiter zu. Ist das Regime von Assad dabei zu kippen?

    Lüders: Es steht in der Tat auf der Kippe, aber es wäre voreilig und es ist europäisches Wunschdenken zu glauben, dass Bashar al-Assad nun schon todgeweiht wäre. Es gibt immer noch weite Teile der syrischen Bevölkerung, die hinter ihm stehen. Das sind vor allem die religiösen Minderheiten, darunter die Christen, es sind aber auch die sehr einflussreichen sunnitischen Händler, die noch zu ihm halten – nicht aus Zuneigung zu diesem Präsidenten notwendigerweise, sondern aus Angst davor, dass dieses Land eben auch eine Entwicklung nehmen könnte nach dem Sturz von Bashar al-Assad, wie der benachbarte Irak. Es wird keinen Sturz geben von Bashar al-Assad, wenn nicht die Armee ihre Unterstützung des Assad-Clans aufgibt. Danach sieht es bislang nicht aus. Die Alauiten, diese religiöse Minderheit, die in Syrien die Macht ausübt, stellt gerade einmal 15 Prozent der Bevölkerung. Und die Alauiten haben panische Angst davor, im Falle einer sunnitischen Machtübernahme – die Sunniten stellen die Mehrheit in Syrien – zur Rechenschaft gezogen zu werden für ihre jahrzehntelange, ja man muss fast schon sagen, Terrorherrschaft. Und vor dieser Nacht der langen Messer haben sie Angst, deswegen werden sie alles tun, um dieses Regime zu verteidigen. Es wird noch ein sehr langes blutiges und zähes Ringen werden. Aber am Ende wird sich Bashar al-Assad nicht halten können, weil er Syrien in die Isolation geführt hat. Und wirtschaftlich kann Syrien das nicht durchhalten. Das Land ist jetzt schon so gut wie bankrott.

    Heckmann: Der Nahostexperte Michael Lüders war das live hier im Deutschlandfunk. Herr Lüders, danke Ihnen für das Gespräch!

    Lüders: Danke!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.