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Gefangenenhilfe in Russland
Einsatz für einen humanen Strafvollzug

Ein Folter-Video aus Jaroslawl sorgte im vergangenen Jahr für Aufsehen gesorgt. 15 Gefängniswärter stehen nun vor Gericht. In derselben Stadt versuchen Helfer wie Julia Wachapowa, den Gefangenen das Leben zu erleichtern. Manchmal treffen Aktivisten und Strafvollzugsbeamte im Supermarkt aufeinander.

Von Gesine Dornblüth | 26.11.2019
Julia Wachapowa von der Gefangenenhilfsorganisation "Rus sidjaschaja" sortiert Spenden
Julia Wachapowa von der Gefangenenhilfsorganisation "Rus Sidjaschaja" sortiert Spenden (Deutschlandradio/ Gesine Dornblüth)
Die Stadt Jaroslawl, knapp 300 Kilometer nordöstlich von Moskau. Die goldenen Kuppeln der vielen Kirchen glänzen in der Sonne. Rund um den alten Stadtkern weitläufige Wohnviertel. Julia Wachapowa und ihre Mann Ruslan, beide Ende 30, suchen nach dem richtigen Hauseingang. Die beiden arbeiten für die Gefangenenhilfsorganisation "Rus Sidjaschaja", die sich im ganzen Land für einen humanen Strafvollzug einsetzt. Ruslan Wachapow hat selbst mehrere Jahre im Lager gesessen.
Ein Anruf, dann eilt eine junge Frau herbei. Natalja führt die beiden in einen Kellerraum. Er ist voller Regale und Kartons. "Hier sind Schlüpfer, nach Größen sortiert. Die Socken haben alle nur eine Größe." Natalja betreibt einen Internetversand und möchte für Gefangene spenden. "Das sind Zahnbürsten, Rasierer, Seife."
Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale am Wolga-Ufer 
Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale liegt in Jaroslaw am Wolga-Ufer (picture alliance/Alexey Kudenko/Sputnik/dpa)
Brutale Misshandlung eines Häftlings in Jaroslawl
Natalja hat das erste Mal mit "Rus Sidjaschaja" ("Sitzendes Russland") zu tun. Sie ist aufgeregt. Denn in Jaroslawl sind vor Kurzem Fälle von Folter ans Licht gekommen. "Ich habe den Film geguckt. Ich habe den Kanal abonniert. Das hat mich so berührt, dass so etwas in Jaroslawl passiert!"
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Strafvollzug in Russland - "In der Zone bist du ein Stück Vieh".
Die Rede ist von einem Dokumentarfilm der russischen Youtuberin Irina Schichman. Mehr als eine Million Menschen haben ihn angeklickt. Schichman, die sonst vor allem Stars des russischen Show-Business interviewt, dokumentiert darin Willkür, Gewalt und Ungerechtigkeit im russischen Strafvollzug. Unter anderem in Jaroslawl. Denn hier haben gut ein Dutzend Mitarbeiter einer Besserungskolonie gefilmt, wie sie einen Häftling brutal misshandeln. Rund zehn Minuten lang ist zu sehen, wie sie den Mann bäuchlings auf einen Tisch drücken, mit Gummiknüppeln auf seine nackten Füße und Unterschenkel einprügeln, ihm auf den Kopf schlagen, ihn mit Wasser übergießen.
"Ich kann den Leuten jederzeit begegnen"
Was da im Video passiere, sagt Ruslan von "Sitzendes Russland", sei Praxis in ganz Russland. Natalja tröstet das nicht. "Jaroslawl ist eine kleine Stadt, ich kann den Leuten hier jederzeit begegnen, womöglich kenne ich sie sogar über ein paar Ecken. Das ist widerlich."
Ruslan nickt. "Julia und ich kaufen jeden Tag im selben Supermarkt ein. Manchmal sehen wir dort Mitarbeiter des Strafvollzugs. Neulich sogar den stellvertretenden Leiter. Wenn er in Uniform, mit seiner Dienstmütze, durch die Kolonie geht, dann ist er Gott. Im Supermarkt ist er eine graue Maus."
Neulich hätten sie den Ermittler getroffen, der Ruslan vor einigen Jahren hinter Gitter brachte, erzählt das Ehepaar. "Als er mich gesehen hat, hat er vor Schreck den vollen Einkaufswagen stehen lassen und ist an uns vorbei aus dem Laden gelaufen. Außerhalb der Kolonie haben diese Leute Angst, einem in die Augen zu sehen."
Ruslan Wachapow wurde wegen einer Lappalie verurteilt. 2011 war er beruflich mit dem Auto unterwegs und musste mal. Während er am Straßenrand pinkelte, sahen ihn Kinder. Er kassierte eine Anzeige wegen Pädophilie. Der Ermittler habe ihm signalisiert, die Untersuchungen gegen ein Schmiergeld einzustellen. Wachapow weigerte sich zu zahlen. So landete die Sache vor Gericht. Namhafte russische Menschenrechtsorganisationen haben sich für ihn eingesetzt. Dennoch musste er in Haft: Fünfeinhalb Jahre.
Ruslan Wachapow von der Gefangenen-Hilfsorganisation "Rus Sidjaschaja" vor Kleiderspenden
Ruslan Wachapow hat selbst im Gefängnis gesessen und engagiert sich jetzt für die Hilfsorganisation "Rus Sidjaschaja" (Deutschlandradio/ Gesine Dornblüth)
15 Wärter angeklagt - ein nie dagewesener Fall
Die Wachapows laden die Kartons mit den Spenden ins Auto. Wenig später stehen sie vor einer hohen Mauer aus Betonplatten. Sie sind mit Stacheldrahtrollen gesichert. "Das ist unser Untersuchungsgefängnis." Ein beigefarbener Klotz aus Sowjetzeiten ragt hinter der Mauer auf. Die niedrigeren Gebäude stammen aus der Zeit Katharinas der Großen.
Ruslan Wachapow deutet auf kleine vergitterte Fenster im vierten Stock des Betongebäudes: "Die Zellen dort sind mit Mitarbeitern des Strafvollzugs besetzt." Es sind die Männer, die auf dem Foltervideo aus der Kolonie zu sehen sind. Sie sind wegen Amtsmissbrauchs angeklagt. 15 Mann. In Russland ein nie da gewesener Fall. Oft fehlen die Beweise, um Folterer vor Gericht zu bringen.
Wer den Strafvollzug in Russland grundlegend verbessern wolle, müsse an die Vorgesetzten heran, die die Misshandlungen mitunter sogar anordneten und oft selbst korrupt seien, meint Ruslan Wachapow. Dafür aber fehle der politische Wille. Umso wichtiger ist es ihm und seiner Frau Julia, den Häftlingen mit Spenden zumindest den Alltag zu erleichtern.
"Hier haben wir einen Dankesbrief. 'Rus sidjaschaja, ich habe euer Päckchen bekommen und mich sehr gefreut. Ich habe sonst niemanden, der mir etwas schickt. Ich bin euch sehr dankbar. Als ich im Trakt saß und mein Name gerufen wurde und es hieß: Hol’ dein Päckchen ab! Da bin ich halb verrückt geworden.‘"