Freitag, 29. März 2024


Gefühl der Entspannung und Normalität

Er ist vom ästhetischen Gesichtspunkt her gesehen eigentlich eine Katastrophe: dieser schwarz-rot-goldene Sonnenschlapphut. Trotzdem trage ich ihn nicht ungern - gerade weil er nichts Heroisches, nichts zu Stolzes an sich hat.

Von Konstantin Faigle | 06.10.2006
    Es ist nun einige Wochen nach der WM, und ich sitze mit diesem Schlapphut inmitten meiner Freunde auf einer ausrangierten Hollywoodschaukel. Nach dem kühlen Bad in einem See haben wir es uns auf dem alten Ding in der Sonne gemütlich gemacht, schaukeln ruhig und entspannt hin und her und betrachten das funkelnde Wasser. Es ist ein Bild der Harmonie, der Entspannung und mitten darin: Ich mit dem Schlapphut in unseren Nationalfarben. Und so wie dieses Bild am See sehe ich auch unseren neuen Umgang mit unserer Nation und unserem zugegebenermaßen nicht gerade einfachen Land. Es ist kein Patriotismus oder gar Nationalstolz. Es ist eher ein schönes Gefühl der Entspannung und der Normalität.

    Noch vor ein paar Jahren hätte man mir dieses Ding in Schwarzrotgold doch nur unter Folter auf den Kopf setzen können. Das war Ballermann, Bundeswehr, Schrebergartenmief, kein Bezug zu mir! Ich war außerdem eines jener westdeutschen Kinder, geboren in den 70ern, aufgewachsen in den 80ern, hatte Klassen- und Studienfahrten nach Dachau, Stutthof und Auschwitz hinter mir und bin mit dem Nationalgefühl der Schuld beziehungsweise deren Bewältigung groß geworden. Und war ich nicht bis vor wenigen Jahren heimlich stolz, wenn zu mir jemand im Ausland sagte: "Sie sind aber kein typischer Deutscher!" Man wollte sich einfach nicht mit jenem humorlosen, bierernsten und arbeitswütigen Volk identifizieren, das so viel Bockmist in seiner Vergangenheit gebaut hatte. Man war Europäer oder besser noch: Weltbürger. Dann bin ich Vater geworden und habe einen Film über die mentale Depression der Deutschen gemacht: "Die große Depression – made in Germany." Darin habe ich ein Freud'sches Bild für unsere zerrissene deutsche Seele gefunden: Bei einem Besuch in Weimar in Goethes Arbeitszimmer stelle ich mir vor, wie die Seelen, die "ach, in meiner deutschen Brust wohnen", plötzlich um mich herum auftauchen.

    Da erscheine ich auf der einen Seite als locker tanzender Südländer, auf der anderen als tiefgründiger, russischer Professor. Da bin ich zum einen der altruistische und sozial engagierte Linke, zum anderen möchte ich auch mal als Schläger hart durchgreifen. Da bin ich mal Jude, mal Palästinenser. Ich strahle als elitärer Musterschüler und rülpse als Anarcho-Punk. Zum Schluss sitze ich als realer Mensch an Goethes Schreibtisch ratlos und zerrissen zwischen all meinen Seelen. Ich will alles sein und kann es nicht, und vor allen Dingen will ich eines nicht sein: nicht hier und jetzt und schon gar kein Deutscher!

    Mit dieser seltsamen Szene wollte ich das Gefühl meiner Generation ausdrücken, dass mit uns etwas nicht stimmt. Und das hat nicht nur mit dem immerzu leidenden deutschen Romantiker in uns zu tun, der stets an sich und der Welt verzweifelt, sondern auch mit unserem fehlenden Nationalgefühl. Uns fehlt irgendwie die Wurzel, das Fundament, die gesunde Basis, auf der wir aufbauen und uns gegebenenfalls auch zurückfallen lassen können. Es ist ähnlich einem Trauma, das man in der Familie hat und ein ganzes Leben lang mit sich herumträgt. Dieses Trauma strahlt in viele andere Lebensbereiche aus, geht man es nicht irgendwann einmal an und überwindet es. Für uns war es die richtige Zeit, unser deutsches Trauma anzugehen. Wir haben deshalb versucht, den vermurksten Umgang mit unserer Identität mit vielen analytischen Büchern, ermunternden Filmen und aufwändigen Medienkampagnen zu kurieren – mehr oder weniger erfolgreich.

    Und dann kam die Weltmeisterschaft 2006 und löste den Knoten - mit Freude und mit Emotionen jenseits der "deutschen Denk- und Grübel-Matrix". Wir konnten damit der Welt zeigen, dass wir Deutsche ganz normal sind: Dass wir in einer vielfältigen Gesellschaft wohnen und in keiner "No-Go-Area", dass wir nicht "Rammstein" sind, sondern tolerant und gastfreundlich, dass wir mit unserem Ordnungssinn und unserer Gründlichkeit vieles zum Funktionieren bringen und trotzdem enorme Lebensfreude entwickeln können. Mit diesem, sagen wir "emotionalen Ende einer langen Therapiesitzung", haben wir Deutsche endlich den gesunden Mittelweg in unserem Nationalgefühl gefunden: jenseits von Größenwahn, Minderwertigkeitskomplexen, romantischer Verklärung und Schuldgefühlen der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte.

    Unser neues Gefühl liegt zwischen "Ruck" und "Zuck", und es ist richtig und schön! Klar, wäre es jetzt an dieser Stelle viel cooler gewesen, das ganze intellektuell-ironisch zu zerlegen und auf Defizite in Deutschland hinzuweisen. Doch ich persönlich plädiere jetzt mehr dafür, auf diesem schönen, neuen Gefühl aufzubauen und einfach mal zu entspannen. Deshalb nehme ich nachträglich auch all meine zerrissenen deutschen Seelen aus meinem Film mit an den See zur Hollywoodschaukel. Unter meinem schwarz-rot-goldenen Schlapphut schaukle ich mit ihnen dann ganz entspannt ins Abendrot - da bin ich eben doch noch der deutsche Romantiker.


    Konstantin Faigle wurde 1971 im Schwarzwald geboren. Seine Kindheit im schwäbischen Gemischtwarenladen seiner Eltern verarbeitete er 2001 zu "Out of Edeka", seinem ersten experimentellen Dokumentarfilm. Eine mitunter satirische Bestandsaufnahme bundesdeutscher Befindlichkeiten vor dem Hintergrund von Arbeitslosigkeit, Selbstzweifeln und mangelndem Selbstbewusstsein lieferte er 2005 mit dem Road-Movie "Die große Depression" ab, in dem er der Frage nachgeht, weshalb die Deutschen immer so viel jammern.

    Zu seinem Essay hat Konstantin Faigle "Finger weg von meiner Paranoia" von Element of Crime gewählt.