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Gegen die allgemeine Lehre angeschrieben

Mit dem Namen Fritz Fischer verbindet sich der erste große Historikerstreit in der Bundesrepublik. "Die Kriegszielpolitik im kaiserlichen Deutschland 1914/18" lautet der Untertitel des Buchs "Griff nach der Weltmacht". Es machte seinen Autor Fritz Fischer im Herbst 1961 schlagartig zum international bekanntesten deutschen Historiker und gilt als Auslöser der sogenannten Fischer-Kontroverse.

Von Volker Ullrich | 05.03.2008
    "Es gibt viele historische Werke, die unsere Kenntnis nur bereichern und die wir deshalb dankbar aus der Hand legen. Es gibt auch andere, aber wenige, die uns erschüttern, ja umwerfen. Sie treffen den Kern von Vorstellungen, die uns teuer gewesen sind. Zu ihnen gehört (...) das neue Buch des Hamburger Historikers Fritz Fischer."

    Mit diesen Worten begann der Publizist Paul Sethe im November 1961 in der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" seine Besprechung des Buches "Griff nach der Weltmacht". Tatsächlich brach der Autor Fritz Fischer mit allem, was bis dahin als gesicherte Erkenntnis der historischen Forschung gegolten hatte. Danach war das Deutsche Reich unter Wilhelm II. nicht, wie alle anderen Mächte auch, in den Krieg "hineingeschlittert", sondern hatte ihn zielbewusst herbeigeführt - in der Absicht, sich über die angestrebte Hegemonie in Europa zur ersten Weltmacht aufzuschwingen.

    Der Aufschrei, den die provozierende These auslöste, zeigte, dass der Hamburger Gelehrte einen Zentralnerv des konservativen Geschichtsverständnisses getroffen hatte. So begann eine der aufwühlendsten historischen Debatten in der Geschichte der Bundesrepublik, die sogenannte Fischer-Kontroverse. An seinem 90. Geburtstag 1998 erinnerte sich Fritz Fischer:

    "Es war wohl der erste große Historikerstreit nach dem Zweiten Weltkrieg. Und zwar hatte sich Deutschland angeklammert an das schon genannte Wort von Lloyd George 'Alle sind hineingeschlittert in den Krieg', womit ja dann der deutsche Anteil in keiner Weise größer gewesen sein kann als der der anderen. Und wenn nun ein deutscher Historiker kommt und sagt: Nein, es war doch etwas anders, dieses Deutschland hat gerade als Spätkommer, als Zuspätgekommener vielleicht, und durch den raschen Aufstieg doch als eine bedrohliche Macht gewirkt - dies auszusprechen war natürlich ein Tabubrechen."

    Von seinem wissenschaftlichen Werdegang her war Fischer eigentlich gar nicht prädestiniert für die Rolle der großen Tabubrechers. Denn seine akademische Karriere hatte der am 5. März 1908 geborene Sohn eines Eisenbahninspektors im Oberfränkischen 1935 als Privatdozent für Kirchengeschichte in Berlin begonnen. Und auch als er nach Krieg und Gefangenschaft 1947 auf seinen Hamburger Lehrstuhl zurückkehrte, spielte er zunächst einen eher unauffälligen Part.

    Erst zwei längere Studienaufenthalte in den Vereinigten Staaten Anfang der 50er Jahre öffneten ihm die Augen für eine neue, kritische Sicht auf die jüngere deutsche Geschichte. Damals reifte in ihm der Entschluss, ein großes Werk über die deutsche Politik vor und im Ersten Weltkrieg zu schreiben. Dazu Fritz Fischer in einem Gespräch kurz vor dem Berliner Historikertag im Oktober 1964:

    "Ich begann dann mit dem Aktenstudium, und das war möglich geworden, weil die Akten, die ja als Beutegut in das westliche und östliche Ausland gekommen waren, inzwischen aus England, Amerika und Russland zurückgekommen waren, in ungeheurer Menge. Und dabei entdeckte ich, dass es Tausende völlig unbenutzte, ja zum Teil völlig unbekannte Akten zur deutschen Politik vor und im Ersten Weltkrieg gab."

    Unter anderem stieß Fischer bei seinen Recherchen auf das "Septemberprogramm" des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg. Diese auf dem Höhepunkt der Marneschlacht Anfang September 1914 formulierte Denkschrift diente ihm als Schlüsseldokument zum Beweis seiner These, dass die deutsche Reichsleitung mit der Auslösung des Krieges im Sommer 1914 tatsächlich maßlose Eroberungsziele verfolgt hatte.

    Die konservativen Vertreter des Faches, allen voran der Freiburger Historiker Gerhard Ritter, taten alles, um den "Nestbeschmutzer" aus Hamburg zu isolieren und mundtot zu machen. So wandte sich Ritter im Januar 1964 an den damaligen Außenminister Gerhard Schröder mit der Bitte, eine Vortragsreise Fischers in die USA zu verhindern.

    "Sie werden begreifen, verehrter Herr Bundesminister, dass wir deutschen Historiker aufs schwerste bestürzt sind über die Aussicht, dass Herr Fischer seine völlig unreifen Thesen (...) in Amerika vertreten soll."

    Fischer reiste trotzdem, auf Einladung amerikanischer Universitäten, und es wurde ein Triumphzug. Jenseits des Atlantiks wusste man zu schätzen, dass ein deutscher Historiker endlich den Mut zur längst fälligen Geschichtsrevision aufgebracht hatte. Aber auch in der Bundesrepublik zeigte Fischers Standfestigkeit allmählich Wir-kung. Auf dem Berliner Historikertag im Oktober 1964 fand er beim studentischen Auditorium begeisterten Anklang.

    "Griff nach der Weltmacht" erschien nicht zufällig am Ende der Adenauer-Ära, und manche haben in diesem bahnbrechenden Buch einen Wegbereiter für die Umbrüche der späten 60er Jahre gesehen. Noch wichtiger aber war seine Bedeutung für die historische Zunft selbst: Es beseitigte das bis dahin unbestrittene konservative Deutungsmonopol und öffnete die Tür für neue, unbequeme Fragestellungen, vor allem die nach der Kontinutiät der Eliten zwischen Kaiserreich und "Drittem Reich".
    Eine jüngere Historikergeneration hat sich davon inspirieren lassen. Fritz Fischer war zweifellos der wirkungsmächtigste Historiker der frühen Bundesrepublik. Beharrlich und mutig hat er der historischen Wahrheit eine Gasse gebahnt. Er starb, vielfach geehrt und ausgezeichnet, am 1. Dezember 1999 in Hamburg.