Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Gegen die Scheinmoral

"Tragödie auf dem Plüschsofa" wurde Henrik Ibsens Drama "Gespenster" einmal genannt. Ibsen kritisierte Ehe und Familie in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Uraufgeführt wurde das Fünf-Personen-Stück, das an einem einzigen Regentag in einem Haus an der norwegischen Westküste spielt, am 20. Mai 1882.

Von Dunja Welke | 20.05.2007
    Ein Familiendrama nannte Henrik Ibsen sein 1881 entstandenes Stück "Gespenster", das nach dem Skandal um "Nora. Ein Puppenheim" die bürgerliche Scheinmoral in der Ehe bloßstellt.

    "Ich wollte beim Leser den Eindruck hervorrufen, dass er während der Lektüre ein Stück Wirklichkeit erlebe."

    Noch über den Tod ihres Mannes hinaus hat Helene Alving den Schein einer intakten Ehe gewahrt, obwohl der angesehene Kammerherr Alving den Frauen nachgestellt und sich oft maßlos betrunken hatte. Sie nimmt Abschied von ihrer Lebenslüge. Am zehnten Todestag offenbart sie sich gegenüber Pastor Manders, der ihn wie alle für einen ehrenwerten Mann gehalten hatte. Eine Szene aus Max Reinhardts Berliner Aufführung von 1906:

    "Die Wahrheit ist, dass mein Mann ebenso ruchlos starb wie er alle seine Tage gelebt hatte."

    "Was sagen Sie?"

    "Ebenso ruchlos nach 19-jähriger Ehe - in seinen Neigungen wenigstens, wie es war, bevor Sie uns vor dem Altar verbanden."

    "Ja und diese Jugendverirrungen, diese Unregelmäßigkeiten - diese Ausschweifungen, wenn Sie so wollen, nennen Sie ein ruchloses Leben?" Wie hat denn so etwas verborgen bleiben können?"

    "Das war ja auch mein unaufhörlicher Kampf gewesen."

    Henrik Ibsen ging es aber um mehr als eine private Familientragödie. Er klagte in seinem vielschichtigen Drama Struktur und Konvention der bürgerlichen Gesellschaft an. Die erstarrten Normen zwängen, so war er überzeugt, die Individuen zu solchen Lebenslügen und wirkten selbstzerstörerisch. Mit den "Gespenstern" platzierte er sich scharfsinnig und provokant in der damals aktuellen skandinavischen Debatte um Sittlichkeit und Moral, um neue Familienmodelle und Frauenemanzipation. Als Vorüberlegung zum Stück notierte er:

    "Die heutigen Frauen - misshandelt als Töchter, als Schwestern, als Ehefrauen, nicht erzogen im Sinne ihrer Begabung, zurückgehalten in ihrer Berufung, ihres Erbes beraubt, verbittert im Gemüt - sie allein sind die Mütter der kommenden Generation. Was ist die Folge?"

    Helene Alving ist eine dieser Mütter. Ihr Sohn Osvald hatte als Maler in Paris ein sinnenfrohes Leben ähnlich dem seines Vaters geführt. Syphiliskrank kehrt er in die ländliche Provinz heim. Mit dem Dienstmädchen Regine, von der er nicht weiß, dass sie seine Halbschwester ist, beginnt er zu flirten. Als Frau Alving das beobachtet, ändert sie ihre Haltung. Ihr wird bewusst, wie sehr sie durch ihr starres Pflichtbewusstsein ihrem Mann und auch sich selbst das Zuhause unleidlich gemacht hatte. Trunksucht und Amouren ihres verstorbenen Mannes erscheinen ihr nun als Ausdruck unterdrückter Lebensfreude. Sophie Wennerscheid, Skandinavistin an der Berliner Humboldt Universität:

    "Die Lebensfreude ist vielleicht der geheime Kern oder auch die Utopie, die in dem Stück verborgen liegt. Eine Utopie, die scheitert, aber sowohl Osvald als auch sein Vater und auch Regine tragen diese Lebensfreude in sich. Und es ist ihnen aber aufgrund der gesellschaftlichen Umstände jeweils unmöglich, sie auszuleben. Und gegen die Lebensfreude steht dann die Lebenslüge, die daraus resultiert, dass man auf das Ausleben der Lebensfreude verzichtet und den Weg der Pflicht geht, was in den 'Gespenstern' ein wichtiges Thema ist. Und das ist die harsche Kritik an den norwegischen Verhältnissen."

    Der konservative skandinavische Kulturbetrieb fühlte sich brüskiert, denn gleich mehrfach hatte Ibsen mit damaligen gesellschaftlichen Tabus gebrochen - Inzest, Syphilis und Alkoholismus. Kein renommiertes nordisches Theater wollte die "Gespenster" spielen. Nicht zufällig also wurde das Stück, das bereits 1881 als Buch erschienen war, im fernen Amerika uraufgeführt. Eine skandinavische Theatertruppe, die vorwiegend aus Amateurdarstellern bestand, brachte es am 20. Mai 1882 in der Chicagoer Aurora-Turner-Hall erstmals und ohne Genehmigung des Autors auf die Bühne. Die Truppe tourte mit der Inszenierung in dänischer und norwegischer Sprache bis nach Minneapolis, wo viele skandinavische Einwanderer lebten.

    Erst im August 1883 feierte Ibsens "Anklagestück" im schwedischen Hälsingborg offiziell Premiere. Besonders das junge Publikum fand sich in der Sehnsucht nach Lebensfreude bestätigt. Und es verstand "Gespenster" als Appell, sich gegen die Heuchelei in der Gesellschaft aufzulehnen.