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Gegen die Verdummung der Gesellschaft

Vom Blog zum Buch. Für den Schriftsteller Rainald Goetz ist der Weg vom kurzlebigen Internettagebuch ins gedruckte und gebundene Wort kein neuer. Seine nun in Buchform erschienen Einträge von der Webseite der Zeitschrift "Vanity Fair" sind sein zweites Werk dieser Art.

Von Dorothea Dieckmann | 13.11.2008
    Kritiker sind es als bulimische Leser gewöhnt, Bücher von A bis Z durchzulesen, bevor sie den Output in Form einer Rezension abliefern und das nächste Buch verschlingen. Die Transkription von Rainald Goetz' Weblog in einem schönen blauen Suhrkamp-Band bringt dagegen eine ganz andere Leseerfahrung. Automatisch wandert die Lektüre, zerstreut sich und springt hin und her, kurz: Sie bewegt sich in wechselndem Tempo wie die Maus auf der Scroll-Leiste, um die Oberfläche des Textes abzutasten und immer wieder innezuhalten. Deutlicher als in dieser nervösen, selektiven Aufmerksamkeit könnte sich die Bewegung des Textes kaum erfüllen, die Goetz auf den ersten Seiten beiläufig so skizziert:

    Es liegt aber auf der Wahrheitswaage des zitternden Aufnehmens aller einem von Weltseite her entgegenkommenden Momente jedes einzelne Wort, jeder Blick, jede Geste, jeder Tonfall und Gedanke.

    Und an anderer Stelle wird die Ur-Idee von "Klage" so benannt:

    Den Text verlassen, vergessen; das Wort ergreifen und geschehen lassen.

    Rainald Goetz ist der erste nicht, der an der Schnittstelle zwischen Literatur und Leben, Reflexion und Aktualität, Analyse und Gefühl einen Ort in der Sprache sucht. Doch er ist einer der wenigen, die dafür eine überzeugende Form finden. Sein wachsendes Textgebilde ist ein konzentriertes Spiel mit Stilebenen, Assoziationen, Aufzählungen, lyrischen Sprachgesten, Kalauern, Kryptogrammen und theoretischem Diskurs, schillernd zwischen mündlicher Spontaneität und wissenschaftlicher Gedankenarbeit.

    Anders als den Pop-Poeten, die Goetz zu seiner Community zählt und die, mit mal erhellenden, mal läppischen Ergebnissen, an einer paradoxen Durchdringung der gesellschaftlichen Oberflächen arbeiten, geht es ihm dabei auch um eine philosophische Grundierung, die mit Luhmanns Systemtheorie beginnt und endet und Vorläufer in der Tradition von Sprachphilosophie und Phänomenologie findet.

    Neben funkelnden Pamphleten etwa über die Dumpfheit des Lobes, die Vorzüge des Nettseins oder die Verblödung durch Reichtum beschreibt Goetz mit geradezu Musilscher Präzision die Interaktionen von Prominenten und Publikumsteilnehmern, Künstlern und Partygängern, um immer wieder auf die Steuerungs- und Gleichgewichtsmechanismen zu kommen, die das Soziale bestimmen, und ein Credo der Geschmeidigkeit zu entwickeln:

    Zukunftsoffen, riskant und dennoch unnaiv zu verfahren im Umgang mit Fremden, Freunden, auch Gegnern und Feinden, hämelos, freundlich (...): das Problem ist klar und experimentell orientiert. Es ist die schöne Schule der Künste, die den musischen Menschen, gegen die Lebenserfahrung der dirty old Weltwelt, ermutigt, in genau diesem Sinn experimentell zu leben. Let's dance.

    Unnachamlich sind etwa die Beobachtungen an Politikern wie etwa dem Minister a.D. Joschka Fischer oder Horst Seehofer – wenn Goetz ersteren bei der Enttäuschung erwischt, nicht mehr beachtet zu werden, und letzteren bei der vergeblichen Kontaktaufnahme mit der Kanzlerin. Die Machtfrage, schließt er, lautet:

    Wer darf wen ansprechen und wie lange vollabern?

    Dergleichen flüchtige, apodiktische Prägungen durchziehen den Goetzschen Blog, nicht als fixe Sentenzen oder Aphorismen, sondern wie die in Licht gehauenen Fließtexte einer Jenny Holzer, die man liebend gern auf T-Shirts drucken und am Leib tragen würde – am besten in einer Reihe:

    Kunst soll unverständlich sein, die Welt ist auch so.
    Die Regeln des Diskurses fortschrittlicher Kollektive sollten deppenoffener gestaltet sein. Wieviel Blut klebt an Gedanken, die die Geschichte verstehen? Kultur entsteht durch Denken und normal unfieses Benehmen.
    Der Charismatiker fürchtet die Effektivität seiner körperlichen Wirkung, andernfalls heißt er Adolf Hitler.


    Zugleich ist die "Klage" natürlich ein Begleittext ihrer Zeit. Sie kommentiert Filme und Ausstellungen, sie berührt Ereignisse vom Rauswurf des Spiegel-Chefs über das Erscheinen des Naziromans von Jonathan Littell bis zum Murat-Kurnaz-Untersuchungsausschuss und mischt sich, gespickt mit herzerwärmenden Hasstiraden gegen prominente Gestalten, in die zeitdiagnostische Verständigung.

    Bisweilen erscheint der Goetzsche Kalender darauf ausgerichtet, überall dabei zu sein, wo eine Halle voll ist und sich das Interesse der Szene fokussiert, vornehmlich das der Popliteratur-Veteranen und Berliner Journalisten. Dann festigt sich der Eindruck einer provinziellen Enge, einer Atmosphäre von Gerücht, Geraune, Klatsch und Rumor, in der es darauf ankommt, wer in welchem Taz-Artikel nach irgendeinem Verlagsfest was über die RAF gesagt und wie er dabei den Autor kolportiert hat. Dieser aber verteidigt sein Interesse an den "westlichen Dekadenzgegenständen" von Dosenpfand bis Foucault mit Nachdruck – nicht zufällig anlässlich einer Lesereise nach Jerusalem und Ramallah:

    Finsternis und Depression, Religion. Der ganze kriegerische Ethnobullshit, why?, es ist so (...) primitiv und widerwärtig und komplett langweilig in seiner simplen Mechanizität des Agonalen, der überall penetrant ausgelebte Machismo dauernd, go home, Krieg, hört ruhig schon mal auf, Krieger, Trottel, Völker. (...) Wäre jeder allein, müßte er offener auf jeden anderen, auf die Gesellschaft der Verschiedenen und Unterschiedlichen zugehen. (...) Nieder mit der Macht der Familie, weniger Macht sei gegeben der Geschichte, den Stämmen und Nationen, den Ethnien und Glaubensgemeinschaften. Die Trompeten von Jericho verkündeten dem Westen: sei schwach, hör auf zu kämpfen, geh lieber schwimmen, essen, feiern.

    Goetz' Begriff von dem, was langweilig ist und was nicht, und sein Vertrauen in die, wie er sagt, "westlichen Werte der Vernunft" mag beschränkt wirken. Doch sein Bekenntnis zum Individualismus und Antiautoritarismus der avancierten abendländischen Kultur hat eine faszinierend hohe intellektuelle und sinnliche Auflösung; und wenn es darum geht, den eigenen, hoch differenzierten Standpunkt im Blick auf andere Gesellschaften zu korrigieren und zu relativieren, liefert ihm wiederum Luhmann das Instrumentarium.

    Vielleicht hindert ihn eben diese unerbittlich feingetunte Selbstbeobachtung daran, den seit Jahren angestrebten Roman zu schreiben. Wären die Empfindlichkeit und die sprachliche Präzision seiner "Klage" verbreiteter, so müssten wir die grassierende Banalität in der heutigen Literatur nicht beklagen.


    Rainald Goetz: "Klage"
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2008
    428 Seiten, 22,80 Euro