Samstag, 20. April 2024

Archiv

"Gegen die Zeit"
Historisches Experiment als Romanvorlage

Anfang der 1970er-Jahre fand in Chile ein Experiment statt, das zum Ziel hatte die chilenische Volkswirtschaft zu vernetzen und kybernetisch zu steuern. Die Geschichte dieses in Vergessenheit geratenen Projekts hat der Schriftsteller Sascha Reh recherchiert und einen spannenden Roman dazu verfasst, den wie ein roter Faden das Thema Verrat durchzieht.

Von Detlef Grumbach | 23.11.2015
    Einheiten der putschenden Militärs feuern vom Dach eines gegenüberstehenden Gebäudes auf den Palast, 11. September 1973.
    Bei der Erstürmung des Moneda-Palastes in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile am 11. September 1973 durch putschende Militärs kam der gewählte Staatspräsident Salvador Allende ums Leben. (picture-alliance / dpa / AFP)
    "Tatsache ist, dass Schreiben für mich die wichtigste Ausdrucksform ist, über bestimmte Dinge Klarheit zu gewinnen, also sozusagen ein Stück meiner eigenen Geschichte und der Welt formen zu können."
    Chile 1970: Der Sozialist Salvador Allende wurde zum Präsidenten gewählt, die USA reagierten mit einem Embargo. Um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, sollte die chilenische Wirtschaft – lange vor Zeiten des Internets – mit Fernschreibern vernetzt werden. Nachfrage und Produktion sollten zeitnah erfasst und in einem kybernetischen Prozess gesteuert werden: keine bürokratische Planwirtschaft, sondern eine Art Selbststeuerung zur optimalen Ausnutzung aller Ressourcen. Die Theorie des CORFO genannten Experiments lieferte der englische Kybernetiker Stafford Beer, die Umsetzung des futuristischen Plans lag in den Händen einer Gruppe junger Wissenschaftler.
    Sascha Reh, geboren 1974, also nach dem Scheitern des chilenischen Experiments, hat die Geschichte dieses völlig in Vergessenheit geratenen Projekts recherchiert. Wie in einem Krimi erzählt er davon in seinem neuen Roman: von politischen und technischen Schwierigkeiten, internen Auseinandersetzungen und einem abrupten Ende.
    "Mich haben am Schreiben eher immer interessiert die Dinge, die ich noch nicht weiß. Und das dürfen auch gerne abgelegene Dinge sein oder Dinge, die uns gerade als Gesellschaft beschäftigen, so wie das mit der Finanzkrise gewesen ist. Und jetzt mit diesem Thema, bei dem neuen Buch, kam das eher über eine abstrakte Faszination für das Thema Kybernetik, was mich damals in meinem Studium auch beschäftigt hat."
    Hans Everding, der Held des Romans, will nach seinem Studium fort aus Deutschland, geht eher zufällig nach Chile und arbeitet dort mit. Wovor er aus Deutschland geflohen sei, fragt Ana ihn einmal, die einzige Frau in dem Projekt, in die sich Hans, in Chile Juan genannt, verliebt. Hans schweigt. Doch dem Autor gelingt es in wenigen kurzen Augenblicken, in denen Hans seine Vergangene einholt, das Trauma seiner Figur und die Bedingungen seines Verhaltens zu skizzieren: Als Kind und Jugendlicher hat Hans erfahren, wie sein Vater nicht mit seinen Erlebnisse im Krieg fertiggeworden ist, wie die Ehe der Eltern in die Brüche ging, wie seine Mutter den Vater kalt und berechnend aus dem Haus geschafft und letztlich in den Tod getrieben hat. Hans hat die Entwicklung beobachtet und sich nicht auf die Seite des Vaters gestellt.
    "Dieser Hans war in dem Moment, in dem er sich für seinen Vater hätte engagieren müssen, nicht auf der Höhe sozusagen, auf der Höhe seiner selbst. Und jetzt, in seinen jungen Erwachsenenjahren in Chile dann plötzlich, in dieser historischen Situation, ist er erneut vor so eine Entscheidung gestellt, also wofür bin ich so engagiert, dass ich Partei dafür ergreife – und auf welcher Grundlage eigentlich. Und das ist mein eigenes Problem, also die Frage, emotional, auf welcher Grundlage entscheide ich, für dieses und gegen jenes zu sein, wenn doch die Welt im Grunde unübersichtlich ist."
    Roman beginnt mit dem Putsch gegen Allende
    "Gegen die Zeit" - der so überschriebene Roman setzt im September 1973 ein, im Augenblick des Putsches gegen Allende. In einer heiklen Aktion retten Juan und Oscar die Magnetbänder mit dem Programmcode CORFOS vor dem Zugriff der Militärs, verstecken sie und trennen sich. Von da an spannt der eine Erzählstrang den Bogen über die Tage nach dem Putsch, die Jagd der Militärs nach den Bändern, Juans Liebesaffäre mit Ana bis zu seiner dramatischen Rückreise nach Deutschland. Der zweite Strang erzählt von der Ankunft Hans' in Chile, von der Arbeit an CORFO, den Debatten über das Verhältnis von politischer und technischer Revolution, davon, wie Hans von einem anfangs distanzierten Beobachter zum engagierten Akteur wird.
    "Ich glaube, was ihn letzten Endes auf die Seite der linken Bewegung zieht, ist auch das politische Programm Allendes, aber es ist, glaube ich, auch diese Form von Gemeinschaft und dann eben zu spüren, dass man will, dass das gelingt. Das ist etwas, wo er über die Dauer emotional hineinwächst und wo sich eine, was man politische Überzeugung vielleicht nennen kann, sozusagen akzidentiell mit einstellt, und emotional arbeitet er sich auch an diesem Liebesthema ab."
    Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Verrat durch den Roman. Unmittelbar nach dem Putsch fragt Juan sich, wie weit er gehen würde, um die eigene Haut zu retten, was andere wohl tun würden. Nach dem Putsch kommt Ana zu ihm, schläft mit ihm ein erstes Mal, will die Bänder. Juan fühlt sich beobachtet. War sie nicht verhaftet, wurde sie nicht verhört, vielleicht auch gefoltert? Was bedeuten Vertrauen und Achtung, gar Liebe in einer solchen Situation? Und welche Rolle spielt Jochen, ein zweiter Deutscher im Projekt, aus der DDR, der bei Juan auftaucht und behauptet, dass er jetzt im Besitz der Bänder ist? Sascha Reh erzählt nah an den historischen Fakten, souverän und spannend bis zum Äußersten.
    "Es gab ja nur die Möglichkeit, die Bänder abzugeben oder zu vernichten, und selbst, wenn er sie liegengelassen hätte, wäre es auch eine Entscheidung gewesen. Das heißt, er kann sich nicht nicht entscheiden. Und ich glaube, das ist eine Erkenntnis einfach, die er gesehen hat: Es ist einfach schlichtweg nicht möglich gewesen, sich aus dem Staub zu machen und die Entscheidung anderen zu überlassen, sondern er hat die am Hals."
    Hintergründiger Entwicklungsroman
    Anas Freund Emilio und sie selbst sind in den Händen des Militärs, Juan hat die gesuchten Bänder. Soll er sie abgeben, das Projekt verraten und damit – vielleicht – die beiden retten? Ist CORFO, sind die gemeinsamen Ziele nicht längst gescheitert? In dieser Situation denkt er plötzlich an den Vater. Ihm hatte er nicht geholfen, bei ihm hatte er es nicht einmal versucht. Diesmal trifft er seine Entscheidung. Insofern hat Sascha Reh nicht nur ein historisch interessantes Projekt dem Vergessen entrissen, sondern auch einen hintergründigen Entwicklungsroman geschrieben.
    "Also für mich kommt er als ein Mensch zurück aus Chile, der reifer geworden ist, der einen persönlichen Reifungsprozess durchgemacht hat, der Verantwortung übernommen hat bei einer sehr schwierigen Entscheidung und jetzt mit den Konsequenzen leben muss."
    Sascha Reh: "Gegen die Zeit", Roman, Schöffling & Co, 354 Seiten, 21,95 Euro