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Gegen Geschichtsklitterung

In seinem Buch "Mara Kogoj" untersucht Kevin Vennemann das Fortwirken der NS-Vergangenheit in der Gegenwart. Er will die Deutungshoheit über das kollektive Gedächtnis nicht den Rechtsradikalen überlassen und außerdem die Wurzeln von Fremdenhass und Rassismus offenlegen. Das Vorhaben misslingt.

Von Christel Wester | 04.07.2007
    Stilistisch ist dieser Roman eine Zumutung - und das aus Kalkül: Die Erzählung sperrt sich bewusst gegen leichte Konsumierbarkeit. Elliptische Sätze, Punkte und vor allem Doppelpunkte mitten im Satz unterbrechen ständig den Lesefluss, fehlende Kommata und der völlige Verzicht auf Anführungszeichen bei direkter Rede lassen die Bezüge verschwimmen. Durch Wiederholungen und Wortreihungen wird die Sprache stark rhythmisiert. Hinzu kommen ständige Perspektivwechsel, die eine polyphone Erzählweise in die Satzstruktur hineinarbeiten. Das erfordert hochkonzentriertes Lesen, zumindest zu Beginn der Lektüre. Denn irgendwann hat man die Bauweise dieser sperrigen Prosa kapiert, was sie indessen kaum angenehmer macht: Hier will einer nicht unterhalten, sondern aufklären, was insbesondere in der deutschsprachigen Literatur mitunter lieber mit Arbeit statt mit Vergnügen verbunden wird. Und das, worum es hier geht, ist das Anschreiben gegen ein "restriktives Konsensgedächtnis", wie es ein ums andere Mal im Roman heißt.

    "In das ein nicht minder zwingendes, von seinem übergeordneten Rahmen gut gefüttertes Familiengedächtnis eingebettet gewesen sein soll, innerhalb dessen wiederum alle Wahrnehmungen Handlungen Erinnerungen, Bestimmungen nicht zuletzt: auf welche Weise Vergangenes vergegenwärtigt werden muss, vorgeprägt sind von den Erforder- und Bedürfnissen eines geschlossenen und überschaubaren Wir: Miterzählen darf, wer nur das erzählt, was sowieso schon bekannt ist und nicht stört."

    Tatsächlich erzählt Kevin Vennemann in seinem Roman etwas Bekanntes. denn zugrunde liegt eine wahre Begebenheit, die zwar nicht zum allgemeinen europäischen Geschichtswissen gehört, aber in Kärnten, wo der Roman "Mara Kogoj" spielt, sehr wohl allgemein bekannt ist. Gleichzeitig handelt es sich um einen Fall von Geschichtsklitterung. Insofern geht es in "Mara Kogoj" um die Manipulierbarkeit des historischen Gedächtnisses und auch um die Manipulierbarkeit der individuellen Erinnerung.

    Zunächst das wahre Ereignis: An den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs brandschatzten SS-Männer den Peršmanhof in Südkärnten und töteten elf Mitglieder zweier slowenischer Familien, die auf dem Hof lebten. Der Peršmanhof war einer der wichtigsten Partisanenstützpunkte im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Nach dem Krieg kam die Behauptung auf, die Partisanen selbst hätten das Massaker verübt. Diese Behauptung wird sogar von manchen Politikern in Kärnten hartnäckig aufrechterhalten, obwohl sich seit 1982 auf dem Hof eine Gedenkstätte befindet und ein Museum den antifaschistischen Widerstand dokumentiert. Der wurde weitgehend von der slowenischen Minderheit in Kärnten getragen. All das erfährt man bereits auf den ersten beiden Seiten des Romans, die eine Art Prolog beinahe Brechtschen Zuschnitts bilden.

    "Der erste Blick allerdings täuscht. Das Vertraute scheint nur vertraut und so ähnlich wie doch gerade eben erst gehört, gelesen."

    Das, was dann folgt, ist entsprechend eine Art Lehrstück.

    "Das Richtige, du wirst schon sehen und hör gut zu, sagt Mara, was wir tun."

    Kevin Vennemann simuliert das Verfahren der oral history. Mara Kogoj, die Titelfigur des Romans, und ihr Kollege Tone Lebonja sind beide Angehörige der slowenischen Minderheit in Kärnten. Sie führen eine Interviewstudie durch, um das Kärntner Heimat- und Geschichtsbewusstsein zu untersuchen und nach Ressentiments gegenüber den Kärntner Slowenen zu durchforsten. Einer der Interviewten ist Ludwig Pflügler. Er ist 60 Jahre alt und somit im gleichen Alter wie Mara Kogoj und Tone Lebonja. Die drei gehören also zur unmittelbaren Nachkriegsgeneration. Pflügler ist Journalist und Politiker, er ist vorbestraft und nun zum zweiten Mal angeklagt wegen publizistischen Verstößen gegen das NS-Verbotsgesetz.

    Vater Pflügler war ein Kriegsverbrecher, der an dem Massaker am Peršmanhof beteiligt war und der die Umdeutung des Geschehens maßgeblich mit vorangetrieben hat. Der Sohn Ludwig Pflügler hat dessen Revanchismus vollkommen verinnerlicht. Und er betreibt die Geschichtsklitterung forciert weiter. Ein Ewiggestriger, wie er schon lange nicht mehr im Buche stand. Dessen Tiraden stehen nun im Zentrum des Romans und letztlich sprengen sie auch die Interviewstudie. Denn der Interviewer Tone Lebonja räumt ihm nicht nur wesentlich mehr Zeit ein als vorgesehen, er konzentriert sich ganz auf ihn.

    "Ich höre zu: reines Zuhören, und ahne währenddessen, die Wahrheit ist eine andere, welche auch immer. Die meine hingegen in den Monaten bei der Arbeit an und mit und bewusst kein bisschen gegen Pflügler fände, findet sich wieder auf dem Tonband der Stille, denn nur in von mir ausgehender völliger Leere kann während der Aufnahme alles andere als das meine gleichzeitig stattfinden und möglichst viel davon zudem, das gehört sich so: Darum geht es mir."

    Tone Lebonja ist die einzige Figur in diesem Roman, die Irritationen auslöst. Bald ahnt man, was sich später als richtig erweist: Tone Lebonja kennt Pflügler aus seiner Kindheit, und er wurde damals von ihm gequält. Pflügler hingegen lässt kein Wiedererkennen spüren und tischt ihm sogar die gemeinsame Geschichte auf - in seiner eigenen Deutung versteht sich. Eine Spannung zwischen den Figuren, die der Autor indessen nicht fruchtbar werden lässt. Über 100 Seiten führt Kevin Vennemann Pflüglers Tiraden in einer hochartifiziellen Prosa vor. Das liest sich wie die Transkription eines Tonbandmitschnitts, der ständig vor- und zurückgespult wird.

    Diesen mimetischen Umgang mit der Sprache beherrscht Vennemann perfekt. Das hat er bereits in seinem vielbeachteten Debütroman "Nahe Jedenew" vor zwei Jahren unter Beweis gestellt. Da lässt er ein junges Mädchen schreckensstarr ein Pogrom an zwei jüdischen Familien wiedergeben und erzeugt eine qualvolle Intensität. In seinem zweiten Roman "Mara Kogoj" führt die Sprachartistik inhaltlich allerdings zu keiner neuen Erkenntnis. Dass dieser Ludwig Pflügler üble Geschichtsklitterung betreibt, ist von vornherein klar, auch dass er Tone Lebonja instrumentalisieren will. Aber hier wird keine komplizierte Täter-Opfer-Beziehung analysiert. "Warum tust du dir das an?", fragt Mara Kogoj Lebonja und spricht dem Leser aus der Seele. Sie hat endlosen Interviews schweigend, gleichwohl aber missbilligend beigewohnt. Zwischenzeitlich ist sie aber auch verschwunden gewesen und hat Recherchen betrieben.

    "Ich tauche wieder auf und zum dritten Mal wieder auf an einem Septembermorgen. Unser Jahr und Gespräch verengen sich auf ein Ende hin und seit jenem Dezembernachmittag auf einen einzigen unausweichlichen Moment, ein Monolog steht noch aus und eine Korrektur, ich sollte sie vornehmen."

    Auf die Korrektur läuft dann alles hinaus: Mara Kogoj treibt ihren Kollegen Tone Lebonja dazu, die eigene Version des gemeinsamen Kindheitserlebnisses mit Ludwig Pflügler zu erzählen. Und schließlich ergreift sie selbst das Wort. Denn darum geht es, die Deutungshoheit über das kollektive Gedächtnis nicht den Rechtsradikalen zu überlassen und außerdem die Wurzeln von Fremdenhass und Rassismus offenzulegen und das nicht nur im ehemaligen Jörg Haider-Land Kärnten, sondern ganz exemplarisch.

    Ein ehrgeiziger Vorsatz, dessen Ausführung misslingt. Kevin Vennemann führt zwar Techniken und Mechanismen der Manipulation vor, verzichtet dabei aber auf jegliche psychologische Figurenzeichnung. Er hält sich stattdessen lieber an die Theorie. So lässt er Mara Kogoj etwa Erkenntnisse aus der neueren Erinnerungsforschung referieren. Und er bringt moderne Musik- und Medientheorie gegen volkstümliches Liedgut und dessen ideologische Wirkung in Stellung, das jedoch weniger in essayistischer Weise, sondern vielmehr wie ein allegorisches Leitmotiv, das den ganzen Text durchzieht. Nicht umsonst hat Vennemann seinem Roman ein John-Cage-Zitat als Motto vorangestellt, aber auch Adorno wird noch bemüht oder besser in hochgradig verschraubter Prosa referiert. Enormen Aufwand hat Vennemann betrieben, um die formale Komplexität seines Romans zu steigern. Ob er glaubt, dass er den Inhalt damit adelt?


    Kevin Vennemann: Mara Kogoj
    Roman, Suhrkamp Verlag 2007
    218 Seiten, 16,80 Euro