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Gegen Residenzpflicht, Gemeinschaftsunterkünfte und Abschiebung

Mit einem Protestmarsch wollen Flüchtlinge auf ihre Lebensverhältnisse in Deutschland aufmerksam machen. Sie fordern die Abschaffung von Flüchtlingslagern und Residenzpflicht, ein Ende der Abschiebungen und die Beschleunigung der Asylverfahren. Am Samstag (08.09.) starten sie von Würzburg Richtung Berlin.

Von Barbara Markus | 06.09.2012
    "Kein Mensch ist illegal!"

    Rund 50 Demonstranten ziehen lautstark durch die Würzburger Innenstadt und bekunden damit Solidarität für jene Forderungen, die Flüchtlinge aus ganz Deutschland nach Berlin tragen wollen, einige zu Fuß andere im Bus: gegen Residenzpflicht, Gemeinschaftsunterkünfte und Abschiebung, für eine schnellere Bearbeitung von Asylanträgen. Eine Sammeldose geht herum, sie füllt sich mit Münzen und Scheinen und am offenen Mikrofon wird um Sachspenden geworben:

    "Wir brauchen Essen, Getränke, Regenjacken, Handtücher, Rucksäcke, Taschentücher, Pflaster. Hat jemand einen Bollerwagen? Es will eine Frau mit einem vierjährigen Kind mitgehen - 600 Kilometer - da können wir nicht verlangen, dass das Kind läuft."

    Bei der Solidaritätskundgebung am Montagabend in Würzburg herrscht Aufbruchsstimmung – doch schon zwei Tage später gibt es einen Dämpfer. Die Polizei nimmt mit Arash Dosthossein ausgerechnet den Wortführer der Asylbewerber fest und erzwingt seine Rückkehr von Würzburg nach Nordrhein-Westfalen. Denn: Als Asylbewerber darf sich der Iraner nur dort frei bewegen. Mit der Fahrt nach Würzburg hat er seine Residenzpflicht verletzt. Vergeblich geißelt der 30-Jährige vor seiner Festnahme die Kriminalisierung:

    Nach Artikel 13 der Menschenrechtskonvention dürfe sich jeder Mensch überall frei bewegen, sagt Arasch. Sein Übersetzer bekräftigt, man werde die Residenzpflicht auf dem Weg nach Berlin ganz bewusst verletzen.

    In Würzburg dient eine ehemalige Kaserne am Stadtrand als Gemeinschaftsunterkunft für 450 Männer, Frauen und Kinder unterschiedlichster Herkunft. Viele der Asylbewerber leiden unter den traumatischen Erlebnissen ihrer Flucht. Flüchtlingsorganisationen kritisieren seit Jahren die beengten und menschenunwürdigen Bedingungen. Anfang des Jahres nahm sich hier ein 29-jähriger Iraner das Leben. Der Selbstmord war Auslöser einer bislang in Deutschland einmaligen Protestbewegung. Etwa auch in Düsseldorf, Osnabrück, Berlin und Regensburg haben Asylbewerber Protest-Camps errichtet, nachdem zehn Iraner Anfang März in Würzburg ihre Zelte vor dem Rathaus aufgeschlagen hatten und in Hungerstreik getreten waren. Ihre Forderung: nie wieder zurück in die Gemeinschaftsunterkunft. Zunächst reagierten Politik und Öffentlichkeit verständnisvoll. Als sich einige der protestierenden Asylbewerber in Würzburg allerdings ihre Münder zunähen ließen, schwand die Unterstützung, sagt Michael Koch vom Freundeskreis für ausländische Flüchtlinge in Würzburg:

    "Das hat aus unserer Sicht einiges kaputt gemacht, was wir in den letzten Jahren erreicht haben an Solidarität aus der Bevölkerung. Einfach deshalb schon, weil es von vornherein egoistisch angelegt war. Nämlich: ich muss als Flüchtling anerkannt werden und dafür kämpfe ich jetzt bis zum letzten sozusagen."

    Auch eine Würzburger Bürgerbewegung, die sich schon lange vor dem Hungerstreik für die Asylbewerber in der Gemeinschaftsunterkunft stark gemacht hatte, war auf Distanz zu den campierenden Iranern gegangen. Radikale Exilpolitiker hätten dort zeitweise die Fäden gezogen, sagt Sprecherin Jenifer Gabel:

    "Ja wir wussten, da sind auch Antimuslime dahinter, da sind auch einige Strömungen in kommunistische Richtungen. Da sehen wir uns als 'Montagsspaziergang' einfach nicht, weil wir für echte Demokratie einstehen – und jetzt - es geht wirklich um diese vier Forderungen. Die stehen im Mittelpunkt und einfach diese Menschen jetzt zu unterstützen, für sich aktiv zu werden, das ist wirklich in ihrer Situation, der Situation der Flüchtlinge, das Allerwichtigste."

    Die vier Forderungen – das sind die Abschaffung von Flüchtlingslagern und Residenzpflicht, ein Ende der Abschiebungen und die Beschleunigung der Asylverfahren. Diese vier Forderungen nach Berlin zu tragen – das ist das Ziel vieler Organisationen, die den Protestmarsch nun unterstützen – darunter auch große Verbände wie Pro Asyl und Landesflüchtlingsräte. Schlafsäcke und Rucksäcke liegen bereit. In Würzburg fiebern zehn Flüchtlinge dem Abmarsch am Samstag entgegen. Einer von ihnen ist Askan, er rechnet mit Solidarität auch aus anderen Städten:

    Auf jeden Fall alle aus den bundesweit sieben Protest-Camps in vier Bundesländern, meint Askan, das könnten so um die 50 mindestens werden. Und der Iraner fügt an, wir wollen allen Flüchtlingen eine Stimme geben, die aus Angst vor Konsequenzen nicht mitgehen. Denn wer sich auf den Weg nach Berlin macht - gleich ob zu Fuß oder auf einer Alternativroute mit dem Bus - der wird die Residenzpflicht verletzen. Asylbewerber werden in Deutschland einer bestimmten Region zugeordnet, die sie nur unter bestimmten Bedingungen und üblicherweise gegen eine Gebühr verlassen dürfen. Jetzt schon appellieren die Grünen in Bayern dafür, nicht auf die Residenzpflicht zu pochen und der Versammlungsfreiheit Vorfahrt zu geben. Was aber, wenn die Polizei mit Festnahmen reagiert, wie zuletzt in Würzburg? Dann könnte es auch ein Marsch durch die Instanzen werden.