Freitag, 19. April 2024

Archiv


Gegen sich denken können. Zum 90. Geburtstag von Jean Amery

Die Nachricht wirkte auf viele wie ein unvergesslicher Schlag. Am ersten Tag der Frankfurter Buchmesse 1978 wurde bekannt: Jean Amery hat sich umgebracht. Er war mit vielen Menschen vertraut, wenn auch kaum befreundet gewesen, ein bestechender Geist, ein Zeitzeuge, der das KZ überlebt hatte, ein intellektueller Provokateur sondergleichen, aber mit einer Freundlichkeit ausgestattet, die der Melancholie entstammte, ein linker Kritiker der Linken. Nun also war er unfasslicherweise tot, hatte den Freitod gewählt, den er zwei Jahre zuvor in seinem Essay "Hand an sich legen" philosophisch begründet hatte. In diesem Text rechtfertigte er den Selbstmord als eine Wahl der Freiheit und der Souveränität des Individuums, die gerade dann aufleuchten, wenn das Leben aus eigenem Entschluss beendet wird. Man hatte seinen Essay auch als ein Rettungsdenken lesen können, als einen Rückhalt, indem der Freitod zum Privileg des Humanen und zur arideren Wahl, die möglich und gerechtfertigt erscheint, die aber nicht getroffen werden muss. Doch die Entscheidung war anders verlaufen. Zu mächtig war in Jean Amery eine Oberstimme, die von der Langweiligkeit und Überflüssigkeit des Überlebens sprach. Sie war schon in seiner Jugend vernehmbar, durch die Erfahrung der Lager jedoch dominant geworden. Das Bestürzende dieses Augenblicks bestand gerade in der Konsequenz, mit der er seinem Text nachgelebt, besser: nachgestorben war.

Wilfried F. Schoeller | 03.11.2002
    Danach geriet er zögernd ins Vergessen; einige Nachauflagen noch, einige Nachträge aus dem Nachlass, der in Marbach weggesperrt blieb, eine Ausstellung. Jetzt, zu seinem 90. Geburtstag am 31. September, wagt sein Verlag eine Ausgabe "Gesammelter Werke", die nach und nach erscheinen wird. Eröffnet wird sie mit dem Essayband "Jenseits von Schuld und Sühne", der, 1966 erstmals erschienen, seinen Ruhm begründet hat.

    Zwei Jahre nach Beginn des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses führte Jean Amery in den fünf Essays dieses Bandes ein Selbstgespräch und suchte dabei etwas Allgemeingültiges zu ermitteln. Er beleuchtete die Bedingungen des Intellektuellen im Lager, bedachte die Erfahrung der Tortur, bestand auf seinem Recht, Ressentiments zu hegen gegen die Deutschen, verstand sich als gelernten Heimatlosen, grübelte über sein Judentum nach. Es waren Partien einer existentiellen Konfession, die er beschrieb. Er durchdrang den abgründigen Stoff, um in ihm Material für die Zukunft freizulegen. Doch sprechen wir zunächst von der Wegstrecke seiner Vergangenheit.

    Jean Amery, eigentlich Hanns Mayer, wurde 1912 in Wien geboren, wurde katholisch erzogen, hätte von seiner jüdischen Abstammung wohl nicht Gebrauch gemacht, wären da nicht 1935 im Deutschen Reich die Nürnberger Rassengesetze erlassen worden:

    Nicht meine Eltern haben mir den zweiten Vornamen Israel gegeben, sondern ein Mensch namens Globke.

    Auch später hat er sich als nichtjüdischen Juden bestimmt:

    Meine Auschwitznummer liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlichere Auskunft.

    Er ist auch in dieser Hinsicht "der ewige Zaungast" geblieben:

    Im Zusammenstoß mit Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, glaube ich erfahren zu können, dass die äußeren Zumutungen und Anforderungen, die an uns gestellt werden, physischer und sozialer Natur sind. Dass mich solche Erfahrung untauglich gemacht hat zu tiefsinniger und hochfliegender Spekulation, weiß ich. Dass sie mich besser ausgerüstet haben möge zur Erkenntnis der Wirklichkeit, ist meine Hoffnung.

    Er wurde geprägt von der neopositivistischen Wiener Schule der Philosophen, versuchte sich an einem - unveröffentlicht gebliebenen -Roman "Die Schiffbrüchigen", gab 1934 eine Zeitschrift namens "Die Brücke" heraus, von der vier Hefte erschienen. Er wäre in die Existenz eines österreichischen Literaten hineingewachsen, aber er musste Dezember 1938 fliehen; es verschlug ihn nach Antwerpen:

    Man geht wahrscheinlich nicht fehl, wenn man behauptet, dass du das Französische usurpiertest, weil man das Deutsche dir gestohlen hatte...

    Bei der Besetzung Belgiens im Mai 1940 wurde er verhaftet und ins französische Lager Gurs deportiert. Im Juni 1941 konnte er fliehen, gelangte unter abenteuerlichen Umständen nach Brüssel. Er arbeitete innerhalb einer deutschsprachigen Widerstandsgruppe mit, wurde wegen antinazistischer Propaganda am 23. Juli 1943 verhaftet und ins Festungslager Breendonk verschleppt, dort gefoltert. Mitte Januar 1944 kam er nach Auschwitz:

    Hier habe ich den ganzen Komplex, den ich vergrub in den letzten mir noch erreichbaren Tiefen meiner Existenz. Dort waren wohl die Flammen nicht sichtbar: nur schwärzlicher Rauch drang aus den Kaminen und grub die Gräber in den Himmel, ich komme nicht los von den Wortstauungen, die mir die Wirklichkeit verstellen ... das Überstehen war ein Widersinn.

    In Auschwitz schuftete er zunächst bei einem Arbeitskommando, dann war er als Schreiber in einem Werk der IG Farben eingeteilt. Er lernte den Chemiker und späteren Schriftsteller Primo Levi kennen. Anfang Februar 1945 wurde er in das berüchtigte unterirdische Arbeitslager Mittelbau-Dora nach Thüringen verlegt, wo die V 2 -Raketen zusammengebaut wurden. Anfang April kam er nach Bergen-Belsen, wo er zwei Wochen später befreit wurde:

    Ein Jeep fährt in die Unterwelt. Ein MP-Sergeant mit roter Mütze, rötlichblondem Bärbeißer-Schnurrbart, läßt sich durch einen Lautsprecher vernehmen: Von diesem Tag an steht das Lager unter dem Schutz der Streitkräfte Seiner Britischen Majestät. Ein jeder Schattenmensch fühlte sich direkt angeredet von dieser Majestät.

    Er war 642 Tage in deutschen Lagern gewesen. Nur 615 aus Belgien verschleppte Juden von insgesamt mehr als 25 000 überlebten, unter ihnen Jean Amery. Nach dem Krieg ließ er sich in Brüssel nieder - ein lebenslanger Exilant. Mitte der fünfziger Jahre machte er aus seinem Namen "Mayer" das Anagramm "Amery" und französisierte seinen Vornamen zu "Jean". Er war mit seiner Brillanz, seiner unbestechlichen Genauigkeit, seiner bis ins Monologische vertieften Moralität einer der wenigen deutschschreibenden philosophischen Schriftsteller vor allem der siebziger Jahre und auch ein beredter Gesprächspartner, ein peripatetischer Geist. "Wieviel Heimat braucht der Mensch?" fragte Amery 1966. Er wollte Ausmaß und Wirkung des Heimatverlusts von Exilierten bestimmen.

    Er spürte in seinem Essay über Heimat den Selbsthass auf, der im Hass auf die feindliche Heimat enthalten ist, ermittelte ihn als Neurose:

    Um dieser oder jener zu sein, brauchen wir das Einverständnis der Gesellschaft. Wenn aber die Gesellschaft widerruft, dass wir es jemals waren, sind wir auch nie gewesen.

    Heimatverlust erscheint bei Amery als Amputation der Biographie. Als Schriftsteller wollte er mit Deutschland lange Jahre nichts zu tun haben; ausschließlich wollte er für die deutschsprachige Schweiz schreiben. Mitte der sechziger Jahre hat er sich nach Deutschland zurückgewendet, ausgerechnet mit einem Buch, das unter dem Titel Jenseits von Schuld und Sühne bohrende Fragen stellt. Darin untersuchte er die Konditionen seines Lebens. In fünf Essays beleuchtete er die Bedingungen des Intellektuellen im Lager, bedachte die Erfahrungen der Tortur, bestand auf seinem Recht, Ressentiments zu hegen gegen die Deutschen, falls er sie wenigstens untersuchte, dachte über sein Judentum und seine Glaubenslosigkeit nach. Er bewunderte seinen Mithäftling Nico Rost, dem es gelungen war, im Tagebuch "Goethe in Dachau" die Erweiterung seines geistigen Horizonts durch Lektüre und Studium zu dokumentieren. Er selbst beschrieb, wie nichtig und unerheblich geistige Tätigkeit für ihn unter der täglichen Oppression wurde.

    Er gestand den Lesern zu, sie möchten ihn für "ein Ungeheuer, wenn nicht an Rachsucht, so jedenfalls an Verbitterung" ansehen, denn er bestand auf seinen Vorurteilen. Er ging die Deutschen hart an wie nirgends sonst in seinen Schriften:

    Ich selber aber verstehe diesen Groll nicht ganz, noch nicht - und darum will ich mir... über ihn klar werden.

    Er forderte etwas Unmögliches, etwas Surreales: nichts weniger als die Aufhebung dessen, was geschehen war, die Rücknahme Hitlers, die Umkehr der Vergangenheit:

    Zwei Menschengruppen, Überwältiger und Überwältigte, würden einander begegnen am Treffpunkt des Wunsches nach Zeitumkehrung und damit nach Moralisierung der Geschichte. Die deutsche Revolution wäre nachgeholt, Hitler zurückgenommen.

    Er wusste selbstverständlich, dass dieser Wunsch unrealisierbar war: die Deutschen hätten Hitler im Dritten Reich beseitigen müssen. Aber es entstand in diesem Wunsch eine utopische Verbindung von Täter und Opfer. Die Nachkriegsgeschichte ist freilich nicht dort stehen geblieben, wo Amery sie besichtigte. Die Verdrängung der Verbrechen, die Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern, die stillschweigende Entschuldung der Täter war keineswegs das letzte Wort. In dieser Hinsicht hat Amery nicht recht behalten: die nationalsozialistische Vergangenheit wurde in das staatliche Selbstverständnis aufgenommen, bildet einen Untergrund für das Verständnis der deutschen Nation und des sozialen Gemeinwesens. Sein eindrucksvollster Essay in diesen Bewältigungsversuchen eines Überwältigten, wie das Buch im Untertitel benannt ist, gilt dem System der Tortur. Amery hat diesen Akt jenseits alles Vorwissens als eine grundsätzliche Veränderung begriffen:

    Ich weiß ... nicht, ob die Menschenwürde verliert, wer von Polizeileuten geprügeltwird. Doch bin ich sicher, dass er schon mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüßt, was wir vielleicht vorläufig das 'Weltvertrauen' nennen wollen.

    Er erfuhr sich in radikaler, ausschließlicher Körperlichkeit. Die Grenzen, die der Körper erlebt, wenn er gemartert wird, sind die Grenzen der Welt. Es ist eine Auskunft über den Menschen, so bindend und gültig formuliert, dass ihr andere Fälle und Möglichkeiten der Tortur nichts hinzufügen können.

    Eine Autobiographie ganz eigener Art legte Jean Amery 1971 vor. Sie besteht aus einer Kette von sechs ineinander greifenden Essays, die sich der Darstellung privaten Lebensschicksals eher entziehen und stattdessen auf den Entwurf einer Zeitbiographie aus sind. Die Epoche von 1930 bis etwa 1970 wird nicht als Zeitfolge einzelner Ereignisse gesehen, sondern als Reflektor von typischen Vorgängen gedeutet: die provinzielle geistige Herkunft, umstellt von Innerlichkeitsaposteln, die Bekanntschaft mit dem Wiener Kreis der Neo-Positivisten und ihren Denkspielen der Logik, das Debakel der Emigration, die überwältigende Wirkung des Existentialismus eines Jean-Paul Sartre, die Auseinandersetzung mit der damals neuesten Strömung des Strukturalismus. Das Buch
    Unmeisterliche Wanderjahre hat Amery blendende Kritiken eingebracht, aber eben nur heimlichen Ruhm. Denn zur Identifikation war diese Schrift nicht angelegt. Sarkastisch wie diese Befunde wirkte auch der vorausgegangene Versuch "Über das Altern". Der Vorgang, beschrieben von einem Sechsundfünfzigjährigen, wird erörtert als Prozess der Selbstentfremdung. Amery revoltiert gegen die Tröstungen, die pragmatischen und die metaphysischen, legt die Unwiderruflichkeit dieser Entwicklung in die Negation bloß, schreibt sich in einen existentielles Feld hinein, wo nichts mehr gilt als die Zweideutigkeit: abgestoßen und angezogen zu sein von dieser Selbstfremdheit. Der Begriff der Revolte, in Nähe zu Sartre und Camus, meint einen tiefen Pessimismus - ein neues Lebensparadox.

    Das große Ereignis der geistigen Welt Amerys war Jean-Paul Sartre. Er ist ihm durch alle Wandlungen gefolgt, auch im Widerspruch, wohl wissend, dass dessen Wille zur eingreifenden politischen Praxis ein Scheitern einschließe. Sartre war für Amery die moralische Instanz schlechthin, von seinem Denken wurde er magnetisch angezogen. Er hat ihm, zuletzt in einem Romanessay über Charles Bovary, nachgeschrieben und respektvoll widersprochen. Im Banne des Sartreschen Riesenwerks über Flaubert, genannt "Der Idiot der Familie", entdeckte Amery den Kleinbürger Bovary, dem Flaubert nur ein Dasein als betrogener Ehemann, als kümmerliche Existenz zugedacht hat. Im Namen von Charles Bovary begehrte Amery gegen den Schöpfer der Figur auf, versucht, den Bürger zu retten vor der Behauptung, als Typus sei er nur auf fantasielose Ordnung und Pflichterfüllung aus:

    Das Maß des Bürgers enthält in sich den Freibrief, es zu sprengen und ein neues zu setzen.

    Jean Amery hat - wie vielleicht nur noch der Schweizer Francois Bondy - das Bild des universalistischen Intellektuellen aus Frankreich nach Deutschland eingebürgert. Er war der Deuter dieses Bildes und dessen Verkörperung zugleich. Er verstand sich selbst als einen Linksintellektuellen. Damit bezeichnete er einen Menschen, der "gegen sich denken" könne. Dieses Selbstverständnis von linker Gesinnung ist nicht gerade in Mode gekommen. Er wollte kein anderer sein als ein freier, skeptischer Geist, der eine selbstkritische "Revision in Permanenz" vorlegt. Manche fanden es frivol, dass Jean Amery 1976 seinen Essay "Hand an sich legen" veröffentlichte. Der Schriftsteller entdeckte im Freitod die Chance, dass man sich selbst gehöre. Die Existenzphilosophie wurde vorgetrieben bis zu jener Paradoxie, dass man sich im Freitod einen Weg ins Freie erwirbt, ohne diese Freiheit wahrnehmen zu können. Als Jean Amery den Schritt vollzog und freiwillig aus dem Leben schied, wirkte das wie eine Rückkehr zur Selbstgewissheit des Opfers.

    Jean Amery ist zwar 1978 gestorben, aber wohl eher in seine Bücher heimgekehrt. Die Skepsis gegenüber dem Überleben nach
    KZ und Tortur hat er nicht überleben wollen, aber sie hat seinen Tod ins Leben der Literatur aufgehoben. Mit dieser Wahl war eine doppelte Entscheidung verbunden: Er hat sich unwiderruflich zum Insassen der Lagerwelt erklärt und er hat sich, indem er sich als ihr Opfer und als ihren Augenzeugen abschaffte, ihr entzogen.

    Amery wiederlesend ist man überwältigt von seinem Urvertrauen in die Sprache, von seinem graziösen Stil und vermutet, gerade die Differenziertheit und Verästelung seines Denkens, das Aufspüren immer neuer Paradoxien, die suchende Unrast nach Details und Nebenwegen, die immer auch das Systematische durchkreuzen, machten seine wirkliche Authentizität aus. Sie könnten in einer Welt, die von der raschen Übereinkunft durch Kommunikation und Populismus lebt, erst noch zum Tragen kommen.