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Gegen Unterdrückung und Gewalt

Gewalt gegen Frauen ist in Indien Alltag. Die UN haben das Land zum weltweit gefährlichsten Ort für Mädchen erklärt. Aktivistinnen des Prabodhini-Projekts in Nagpur zeigen Frauen, wie sie sich wehren können. Sie schreiben Theaterstücke über häusliche Gewalt, Alkoholismus und Zwangsverheiratung.

Von Leila Knüppel und Nicole Scherschun | 29.12.2012
    Amar und Shahad haben schon einige Schnäpse intus, nun taumeln sie über die Bühne, begleitet von den Unheil verkündenden Klängen des Keyboards. Gleich wird das Unglück seinen Lauf nehmen. Shahad wird die Frau seines besten Freundes vergewaltigen.

    Amar und Shahad sind eigentlich Abhaydana und Shital. Zwei Aktivistinnen des Prabodhini-Frauenprojekts; die Whiskeyflaschen in ihren Händen: Requisiten.

    Auf einer kleinen Dorfbühne, zusammengezimmert aus Bambusstöcken, Brettern und Stoffbahnen, führt Abhaydana Rama Lanjewars Frauengruppe an diesem Abend ihre selbst geschrieben Stücke auf.

    "Wir zeigen Theaterstücke, Lieder und Geschichten über soziale Probleme wie Mitgift und Zwangsverheiratung, Sucht, Aberglauben und häusliche Gewalt."

    Frauen und Kinder sitzen auf Matten auf dem Marktplatz im zentralindischen Jetsoli und schauen gebannt zu. Was sie hier sehen, gehört zu ihrem Alltag.

    Neun von zehn Frauen geben in einer aktuellen Umfrage an, regelmäßig von sexueller Belästigung betroffen zu sein. "Eva-Necken" werden solche Übergriffe hier beschönigend genannt.

    "Wenn wir rausgehen, ärgern uns Jungen, berühren uns", erzählt eine Zuschauerin. Davor habe sie Angst.

    Mit Theateraufführungen, Handwerks- und Selbstverteidigungskursen will das Prabodhini-Projekt Frauen ermutigen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen - sich gegen die allgegenwärtige Gewalt zu wehren, sagt Abhaydana Rama Lanjewar.

    "Zuerst reden wir mit den Frauen über ihre Probleme. Zu Hause oder auf dem Weg zur Arbeit werden viele sexuell belästigt. Jede Frau muss lernen, damit umzugehen."

    Indische Zeitungen, Radio und Fernsehen berichten immer wieder von Gruppenvergewaltigungen. Nicht erst seit dem besonders brutalen Fall in Delhi, der zu Massenprotesten führte. Doch die meisten Frauen schweigen – in Indien werden gemessen an der Bevölkerung rund vier Mal weniger Vergewaltigungen angezeigt als in Deutschland.

    Nachmittags in einem Vorort der zentralindischen Stadt Nagpur: 30 Frauen des Prabodhini-Projekts haben sich im schattigen Innenhof eines Steinhauses versammelt.

    Während der Handarbeit sprechen sie auch über ihre Probleme. Sie dürfe kaum aus dem Haus gehen, sagt die 30-jährige Nanda Suntake.

    "Wenn mein Ehemann es erlaubt, müssen noch meine Schwiegereltern und mein Schwager einwilligen. Die sagen nur selten ja. Deswegen kann ich nicht viel unternehmen. Die Schwiegereltern sagen, ich solle mit dem zufrieden sein, was die Familie mir erlaubt."

    Zwar sind Mann und Frau laut indischer Verfassung gleichgestellt. Selbst Frauenquoten gelten in fast allen Parlamenten der 28 Bundesstaaten. Das hat bisher aber wenig am traditionellen Rollenbild geändert - die Frau bleibt dem Mann untergeordnet.

    Nach der Hochzeit muss die junge Braut zu ihrem Ehemann ziehen. Fortan ist sie auf das Wohl seiner Familie angewiesen. Die eigenen Eltern sagen sich meist von ihr los.

    Frauen müssten Folter und Bedrohung durch ihren Mann ertragen, meint die 41-jährige Anusya Nagelente resigniert. Das werde eben so erwartet.

    "Erst werden wir von unseren Ehemännern unter Druck gesetzt, dann von unseren Söhnen. Jede Frau muss das ertragen."

    Jede zweite indische Frau glaubt, es sei in Ordnung, wenn Ehemänner ihre Frauen schlagen, heißt es in einer nationalen Familienstudie.

    Die Professorin Vibhuti Patel kämpft seit mehr als 40 Jahren für die Rechte der indischen Frauen. Früher als Sozialarbeiterin, heute an einer Universität in Bombay.

    Lange Zeit wurde die Frau in der patriarchalen indischen Gesellschaft als Objekt gesehen, erzählt die Aktivistin. Doch mittlerweile ändert sich die Rolle der Frauen. Nicht nur, weil zahlreiche Mädchen in ihren Vorlesungen sitzen.

    "So viele junge Frauen erobern männliche Bastionen. Die Jungen aus der Nachbarschaft werden Kurierfahrer oder Hilfsarbeiter und verdienen nicht mehr als 150 Euro im Monat. Die Mädchen dagegen studieren Jura und Medizin und bekommen später ein Gehalt von 1000 Euro. Da kommen Neid und Wut auf bei Männern. Sie merken: Der Zug ist für sie abgefahren. Die Mädchen haben die Nase weit vorn."

    Sind Neid und Konkurrenzdruck also Grund für die sexuellen Gewaltexzesse? Das Patriarchat in Indien bröckelt jedenfalls. Junge Frauen beginnen, ihre Rechte einzufordern. Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben kollidiert mit traditionellen Werten.

    "Wir haben beispielsweise schon immer ein Gesetz gegen die Heirat Minderjähriger. Aber nun erst sagen junge Schulmädchen, ich lass mich nicht verheiraten. Ich rufe die Polizei an, damit sie mich gegenüber meiner Familie beschützen. Manche werden deswegen als Hexen bezeichnet und getötet. Von ihren eigenen Familien."

    Auf der Dorfbühne in Jetsoli streiten die Laienschauspieler mittlerweile um eine üppige Brautmitgift. In dem Theaterstück fordert die Familie des Bräutigams ein Auto, Haus, Geld und Land. Ein Mädchen zu verheiraten ist in Indien teuer. Ein Sohn bringt dagegen bei der Hochzeit Geld ein.

    Deswegen gilt die Geburt eines Mädchens für viele Inder als Unglück. Bis zu zwölf Millionen weibliche Embryos sollen in den vergangenen drei Jahrzehnten Schätzungen zufolge abgetrieben worden sein.

    Pränita Kotari hält ihre sechsjährige Tochter im Arm. Die Kleine schaut mit großen Augen dem Treiben auf der Bühne zu. Pränita ist stolz auf ihre Tochter.

    "Die Leute denken, Jungen seien besser, weil sie den Familiennamen weitertragen. Aber ich denke, Mädchen können das auch. Ich finde sie genauso gut wie Jungen."

    Die Frauen von der Prabodhini-Theatergruppe verbeugen sich. Die meisten der von ihnen aufgeführten Theaterstücke sind einigermaßen glimpflich ausgegangen: Die Brauteltern haben sich geweigert, die hohe Mitgift zu zahlen. Die Vergewaltigungsopfer sind zur Polizei gegangen, die Täter wurden bestraft.

    Doch in der Realität gibt es für die meisten Frauen kein Happy End, weiß Abhaydana Rama Lanjewar.

    "Ich würde mir wünschen, dass alle Frauen in Indien als Individuen anerkannt werden, dass sie wie Menschen leben können. Ihre Familien sollten sie unterstützen und nicht behindern."