Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Geglückte Befreiungsaktion in Kolumbien

Die geglückte Befreiungsaktion des kolumbianischen Militärs, die Ingrid Betancourt und 14 weiteren Entführten die Freiheit brachte, wirft dennoch einige Fragen auf: War bei dieser Rettungsaktion doch Lösegeld im Spiel? Wurden die FARC wirklich unterwandert? Wie kann man einen FARC-Kommandanten überlisten, der mit diesen 15 Geiseln die Kronjuwelen der FARC besaß? Wie hat er die Bestätigung für den Transport vom Oberkommandierenden Alfonso Cano erhalten?

Von Peter B. Schumann | 05.07.2008
    "Durch eine Sonderaktion des militärischen Geheimdienstes wurden gesund und unversehrt 15 Entführte aus den Händen der FARC befreit. Unter ihnen befinden sich Ingrid Betancourt, drei nordamerikanische Bürger und elf Mitglieder unserer Ordnungskräfte."

    Die Mitteilung des kolumbianischen Verteidigungsministers Santos überraschte Mittwoch-Nachmittag nicht nur die anwesenden Journalisten. Zwar wurden in der letzten Zeit immer wieder Nachrichten von einem bevorstehenden Gefangenenaustausch verbreitet. Doch bisher waren fast alle humanitären Versuche gescheitert. Selbst dem venezolanischen Präsidenten Chávez gelang es nicht, mit seinen vollmundig angekündigten Rettungsoperationen die Guerillas wirklich zum Einlenken zu bewegen. Trotzdem vertraute die Familie von Ingrid Betancourt, der Prominentesten der zahllosen Entführten, noch vor kurzem darauf, dass nur humanitäre Schritte zum Ziel führen würden.

    Doch während die Einen sich in wildem Aktionismus erschöpften und die Anderen auf die FARC hofften, bereitete die Regierung unter höchster Geheimhaltung eine weitere militärische Aktion vor. Zwar konnte sie im März mit ihrem Anschlag auf Raúl Reyes, einem der wichtigsten Guerillaführer, einen großen Erfolg für sich verbuchen. Sie verursachte aber mit dem Vordringen auf ecuadorianisches Hoheitsgebiet einen regionalen Konflikt, der leicht zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit den Nachbarländern hätte führen können. Deshalb gingen die Militärs diesmal behutsamer vor.
    "Bei der Operation ist es gelungen, jene Truppe der FARC zu unterwandern, in deren Gewalt sich in den letzten Jahren eine große Anzahl von Entführten befunden hat",
    berichtet der Verteidigungsminister auf der Pressekonferenz am Mittwoch.

    "Außerdem ist es gelungen, auch das Sekretariat, die Befehlszentrale der FARC, zu unterwandern. So war es möglich, César, den Anführer dieser Truppe, davon zu überzeugen, die Entführten zu einem Ort zu schaffen, wo sie ein Hubschrauber abholen konnte, um sie dem neuen Oberbefehlshaber der FARC, Alfonso Cano, zu überstellen."

    Alles war eine Finte, die nur mit Hilfe US-amerikanischer Militärberater durchgeführt werden konnte, wenn dies auch vom Verteidigungsminister bestritten wird. Denn die kolumbianischen Streitkräfte galten noch vor Jahren als ein reichlich desolater und korrupter Haufen, der nicht einmal in der Lage war, die Landstraßen zu sichern. Deshalb erhielt die Regierung Uribe von den USA die höchste Militärhilfe in Lateinamerika, insgesamt zwei Milliarden Dollar, um die Streitkräfte gegen Drogenhandel und Terrorismus aufzurüsten. Ihre neue Schlagkraft haben sie bei der Attacke auf ecuadorianischem Gebiet ebenso bewiesen wie bei dieser erneuten Aktion gegen die FARC, der sogenannten Operation Schachmatt.

    "Diese Operation hat die grenzenlose Intelligenz der Kolumbianer gezeigt, verkörpert in der Intelligenz der Streitkräfte des Vaterlandes", so Präsident Uribe bei seinem ersten Statement. "Ein militärisches Heldenstück und eine Hommage auf die Menschenrechte."

    Pathetische Worte über eine Geiselbefreiung, bei der wohl tatsächlich kein Schuss gefallen ist. Ganz im Gegensatz zu dem direkten Angriff auf die FARC in Ecuador, bei dem 22 Menschen, darunter mexikanische Studenten, durch Raketenbeschuss umgebracht worden sind. Zimperlich geht dieser Präsident weder mit Worten noch mit Menschen um. Aber Uribe ist es - anders als seinen Vorgängern - mit der "Politik der starken Hand" geglückt, den Terroristen der FARC Tiefschläge zu verpassen. Sie sind zwar noch lange nicht "schachmatt", aber diese geschickte Geheimdienstaktion hat sie ihres wichtigsten Faustpfandes, Ingrid Betancourt und der drei US-Amerikaner, beraubt. Sie dürften sich künftig kompromissbereiter verhalten.
    "Wir wussten den ganzen Tag über nicht, was los ist", so Ingrid Betancourt kurz nach ihrer Ankunft auf der Militärbasis Catam in der Nähe von Bogotá. "Dann sagte einer der FARC-Anführer zu mir: Wir werden alle zusammen mit einem Hubschrauber zum neuen Oberbefehlshaber der Guerilla fliegen. Er will mit euch reden, und ihr sollt besser untergebracht werden. Das brach mir fast das Herz, denn ich wollte kein weiteres Gefängnis kennen lernen, sondern frei sein. Als wir die beiden Hubschrauber hörten, war ich dennoch glücklich, denn früher bedeutete ein Hubschrauber Angriff, Angst, die Sachen zusammenpacken und sich verstecken."

    Doch in diesem Augenblick glauben Ingrid Betancourt und ihre Leidensgenossen - die drei US-amerikanischen Militärberater und elf kolumbianischen Militärs und Polizisten - noch immer an einen Umzug in andere Gefilde. Sie werden auch erneut gefesselt und fühlen sich gedemütigt, sind frustriert, hoffnungslos.

    "Dann geschah während des Fluges etwas, das ich zunächst nicht verstehen konnte, bis ich César, unseren Gefängniswärter, sah, der uns jahrelang so grausam behandelt und erniedrigt hat: Er lag in Fesseln und mit verbundenen Augen am Boden. Da sagte der Chef des Kommando-Unternehmens: "Wir sind von den nationalen Streitkräften. Ihr seid frei." Der Hubschrauber wäre beinahe abgestürzt, so sind wir umhergesprungen, haben geschrien, geweint, uns umarmt. Wir konnten es nicht glauben: Es war ein Wunder. Wir Kolumbianer können stolz sein: Es gibt keine historischen Vorbilder für diese so perfekt abgelaufene Operation."

    Aber es gibt viele Fragen zu dieser ersten gelungenen militärischen Befreiungsaktion von Entführten in Kolumbien. Man darf über dem nationalen und internationalen Jubel nicht vergessen, dass hier ein Tabu gebrochen wurde. Bisher waren sich die politisch Verantwortlichen mit den Familienangehörigen der Geiseln darin einig, dass keine gewaltsamen Aktionen unternommen werden sollten, um das Leben der Opfer nicht zu gefährden. Wie wird die Regierung aber nun, nach diesem Erfolg mit der "Operation Schachmatt", vorgehen, um die nahezu 700 entführten Militärs, Polizisten und vor allem Zivilisten, die sich noch immer in Händen der FARC befinden, zu befreien? Und Kommentatoren wie Alvaro Sierra von der Tageszeitung El Tiempo fragen sich nach wie vor:

    "Was für Bedingungen lagen dieser Befreiung wirklich zugrunde? War bei dieser Rettungsaktion nicht doch Lösegeld im Spiel, wenn das auch verneint wird? Wurden die FARC also wirklich unterwandert? Wie kann man einen FARC-Kommandanten überlisten, der mit diesen 15 Geiseln die Kronjuwelen der FARC besaß? Wie hat er die Bestätigung für den Transport vom Oberkommandierenden Alfonso Cano erhalten? Gab es nicht doch Verhandlungen mit den FARC, denn zwei Tage zuvor hat die Regierung mitgeteilt, dass sich französische und Schweizer Abgesandte mit ihnen getroffen haben?"
    Solche Fragen werden die Kolumbianer noch lange beschäftigen. Doch Ingrid Betancourt hat - nach einem ersten bewegenden Wiedersehen mit ihrer Familie - bereits einen Plan für die Zukunft gefasst. Sie will an einer Liga der Länder mitarbeiten, die für die Freilassung von Entführten in aller Welt kämpfen.