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Gehäutete Räume

Manchmal, eher selten, gibt es Entdeckungen zu machen im Kunstbetrieb. Etwas, das nicht der letzte Schrei ist, keine hohen Preise erzielen und keinen neuen Trend begründen wird. Sondern was jahrelang auf dem Dachboden verstaubte und da heruntergeholt wird und plötzlich eine kleine Retrospektive ergibt. So im Fall der 1993 verstorbenen Schweizer Künstlerin Heidi Bucher, zeitlebens eher am Rande des Ausstellungsbetriebs, die nun im Züricher Migros-Museum wieder entdeckt - oder vielmehr: überhaupt erst entdeckt wird. "Latex-Häutungen" nennt das Museum diese Arbeiten. Eine Spurensicherung auch der eigenen Existenz: die Künstlerin bestrich Wände, Fenster, Türen, Fußböden der von ihr bewohnten Häuser mit flüssigem Latex und zog die getrockneten "Häute" dann ab. Zeit, Vergangenheit, auch Kunstgeschichte also sollte in diesen meist perlmutt-farben bemalten Stoffen aufbewahrt werden.

Von Christian Gampert | 25.11.2004
    Als sie an einer Ausstellung zum Unheimlichen in der Architektur arbeitete, stieß die Kuratorin Heike Munder vom Züricher Migros-Museum nicht nur auf die englische Künstlerin Rachel Whiteread, die in den Neunzigerjahren Betonabgüsse viktorianischer Reihenhäuser fertigte, sondern auch auf den Schweizer Künstler Mayo Bucher, der ihr erzählte, seine Mutter habe ganz ähnliche Dinge getan. Heidi Bucher, 1993 im Alter von 67 Jahren gestorben, hatte in den Siebziger- und Achtzigerjahren mit so genannten "Latex-Häutungen" Aufsehen erregt: sie hatte die Wände ganzer Räume in Kunststoff abgezogen und diese Häute ausgestellt. Da sie aus reichem Hause kam und nicht wirklich verkaufen musste, blieb das ein Schweizer Insidertipp, und die Objekte verschwanden nach dem Tod der Künstlerin auf dem Speicher.

    Sie da heruntergeholt zu haben, ist das Verdienst von Heike Munder, die natürlich weiß, dass es sich hier nicht um eine typische Künstler-Biographie handelt:

    Heidi Bucher hat sehr spät angefangen, sich mit zeitgenössischer Kunst zu beschäftigen und Kunstwerke zu produzieren. Sie kommt vom textilen Gestalten. Als sie Anfang der siebziger Jahre ihre ersten Body-Shells, also die ersten größeren Skulpturen gebaut hat, da war sie schon über 30. Und als sie die großen Hautabzüge gemacht hat, also die Innenräume abgezogen hat, da war sie an die 50. Das ist etwas, was in der Biographie eines Künstlers nur schwer akzeptiert wird.

    Heidi Bucher hat in den siebziger Jahren eine Weile in den USA gelebt, und ein Film in der Ausstellung zeigt den Tanz ihrer merkwürdigen Body-Shells, Körper-Schalen oder -Muscheln, am nebligen Strand des Pazifik in San Francisco. Ein bisschen erinnert das an Schlemmers triadisches Ballett; aber diese weißen Schaumstoff-Skulpturen machen absurdes Theater, da stecken leicht Hippie-artig aussehende Menschen drin, die Künstlerin und ihr Mann.

    Man könnte jetzt mit Pop- und Minimal-Art, Konzeptkunst und Performance kommen - und doch wird das der Sache nicht wirklich gerecht. Es geht bei Buchers Körper-Umhüllungen, auch bei den späteren skulpturalen Kokons immer um das Verhältnis von Innen und Außen, um Schutz und Verkleidung und Rückzug und dann um das Sich-Freimachen von Zwängen. Merkwürdige, perlmutt-bemalte Ummantelungen sind das, innen mit zarter Gaze gefüllt.

    Es geht aber auch um die Weichheit des Materials: Latex, das klingt so obszön und schrill. Das Gegenteil ist der Fall: Heidi Bucher betreibt in ihren Arbeiten eine ganz ernsthafte Spurensuche. Einerseits ist sie auf der Fährte des Weiblichen: das dehnbare Latex wurde damals, Ende der 60iger, Anfang der 70iger Jahre, zuerst auch von Eva Hesse genutzt, Niki de Saint Phalle wölbte ihre Nanas in Polyesterharz. Heidi Bucher tunkte Unterkleider und Strumpfhosen in Latex, wrang das Zeug aus und arrangierte die starr gewordenen Akzidenzien ihrer Weiblichkeit auf Bildträgern, "Body Wrappings". Bisweilen erhalten diese Requisiten auch eine ungeahnte Leichtigkeit: während in den Skizzen der "Paradiesvogel" auftaucht, ist in der Skulptur die Libelle ein tragendes Motiv - insektenartig flatternde, gespreizte Ballkleider. Fliegen müsste man können.

    Andererseits rekonstruiert Heidi Bucher ihre Familiengeschichte. Viele ihrer Raum-Häutungen, Latex-Abnahmen der 80iger Jahre versuchen, den magischen Ort, ihr "Ahnenhaus", das Haus ihrer Kindheit festzuhalten. Holzbohlen-Fußböden und Linoleumbeläge, die Reliefs von Türen und Fenstern, die Textur von Wänden sind in dieser Ausstellung wie Totenmasken des wirklichen Lebens aufgehängt: man möchte die Vergangenheit festhalten, aber man will sich auch von ihrer normierenden Starrheit freimachen.

    Das Prozesshafte dieser Arbeit wird in einem Film gezeigt: Heidi Bucher geht mit der Taschenlampe durch die Obermühle in Winterthur, ihr Ahnenhaus, und beschichtet die heruntergekommenen, modrigen Wände mit Latex. Und im Prozess des Abziehens des Materials kann man dann auch hören, dass sich da jemand verändern möchte, sich häuten will.

    Das Schrundige der dabei entstehenden Objekte erinnert manchmal an die rissigen Oberflächen der Arbeiten des Anselm Kiefer: eine melancholische Sinnlichkeit. Aber Heidi Bucher strebte ins Dreidimensionale: in der Ausstellung kann man einen kompletten, aus Latex-Wänden bestehender Raum betreten, der das alte Wohnzimmer imitiert. Auf Fotos sieht man diesen Kunst-Raum über dem Ahnenhaus schweben - er hängt zwar an einem Kran-Arm, aber er scheint zu fliegen. Und auf Skizzen kann man Heidi Buchers Traum nachvollziehen, ein solches Latex-Zimmer auf einem Floß mitten im See zu installieren, als Erinnerung und Entwurf gleichzeitig - im Fluss der Zeit.