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Geheimlabor der Energie

Am 27. Juni 1954 geht in Obninsk, rund 110 Kilometer südwestlich von Moskau, das erste Atomkraftwerk der Welt ans Netz. Bereits acht Jahre zuvor begann eine streng geheime Phase der Erforschung. Ein Großteil des nötigten Fachwissens bezogen die Russen aus Deutschland.

Von Irene Meichsner | 27.06.2009
    Die Nachricht traf die westliche Welt völlig unvorbereitet: Am 27. Juni 1954 ging in Obninsk, rund 110 Kilometer südwestlich von Moskau das erste Atomkraftwerk in Betrieb, das elektrischen Strom produzierte. Bis dahin hatte man Atomenergie nur zur Produktion von Waffenplutonium genutzt. Die Amerikaner hatten zwar auch schon mit Atomstrom experimentiert, bislang in einem Testreaktor aber nur vier 100-Watt-Birnen zum Leuchten gebracht. Das Kraftwerk von Obninsk hingegen versorgte – bei einer Nettoleistung von fünf Megawatt – rund 10.000 Haushalte mit elektrischem Strom.

    Mitten im Kalten Krieg zeigten die Russen eine ungeahnte technologische Stärke. Schon unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten sie sich aus Deutschland beschafft, was sie für den Ausbau der Atomtechnik brauchten: spaltbares Material, Geräte, wissenschaftliches Know-How. Die Ingenieurin Ninel Epatowa, die nach Obninsk abkommandiert wurde, berichtete später:

    "Aus Deutschland kamen Laborausstattung, Materialien und eine große wissenschaftliche Bibliothek. Wir erhielten pulverartiges Uran und ein klares Bild, dass die Deutschen unter der Führung Heisenbergs in der Vorbereitung einer gelenkten Kettenreaktion bei Natur-Uran weiter waren als wir. Im Dezember 1945 beschloss die Regierung, zur Arbeit auf dem Gebiet der Kernphysik auch deutsche Wissenschaftler heranzuziehen."

    Die Leitung des Geheimlabors in Obninsk übernahm Anfang 1946 der Dresdner Atomphysiker Heinz Pose - ein ehemaliger Mitarbeiter des deutschen "Uranvereins". Im September 1951 begannen die Bauarbeiten.

    Epatowa: "Wir arbeiteten rund um die Uhr. Es wurden extrem kurze Fristen gesetzt. Der Ort blieb vorerst ein Geheimnis. Das änderte sich Ende 1954. Von da an kam dem AKW die Rolle eines mächtigen Mittels zur Propaganda der Errungenschaften und der friedlichen Ausrichtung der Sowjetunion zu."

    Im August 1955, bei der ersten Internationalen Konferenz der Vereinten Nationen über die friedliche Nutzung der Atomenergie, gaben die Russen technische Einzelheiten preis. Robert Gerwin, der spätere Pressereferent der Max-Planck-Gesellschaft, war als junger Journalist in Genf dabei.

    "In atemloser Stille lauschten die Atomwissenschaftler und -techniker aus aller Welt, als Professor Dmitrij Blochincev den Schleier des Geheimnisses lüftete, unter dem bisher das erste in der Sowjetunion gebaute Atomkraftwerk verborgen war."

    Die Russen hatten - unter Leitung von Bose - rund 30 verschiedene Brennelemente getestet. Man entschied sich für einen Uran-Grafit-Reaktor mit Wasserkühlung - der Prototyp des späteren Katastrophenreaktors von Tschernobyl.

    Gerwin: "Die 128 Brennelemente stehen senkrecht nebeneinander in einem bienenwabenartigen Gehäuse aus Graphit-Ziegeln und bilden zusammen einen Zylinder von 170 Zentimetern Höhe und 150 Zentimetern Durchmesser, die sogenannte aktive Zone des Reaktors."

    Die Amerikaner hatten damit den Wettlauf um das erste zivile Atomkraftwerk verloren.

    Epatowa: "Obninsk wurde zum Mekka der Atomenergie, zum Pilgerzentrum für Exkursionen aus aller Welt. Gleich ganz am Anfang kam Frédéric Joliot-Curie, der Vater der Atomphysik. Als einer der ersten Staatschefs kam Indiens Premierminister Nehru. In den ersten Jahren kamen viele Chefs der mit der UdSSR befreundeten Staaten nach Obninsk: Zedenbal, Sukarno, Tito und andere. Binnen zweier Jahrzehnte waren mehr als 2000 Delegationen aus fast allen Ländern der Erde hier."

    Die deutschen Physiker wurden nicht mehr gebraucht. Heinz Pose kehrte nach Dresden zurück. In dem Dokumentarfilm "Das Rote Atom", den der NDR vor kurzem ausstrahlte, äußert sich dazu sein Sohn, Rudolf Pose:

    "Es ist leider so, dass einerseits durch die Geheimhaltung und andererseits, um dieses starke Bestreben, die eigene Stärke herauszustreichen und immer wieder herauszustreichen, die Arbeit der Deutschen ja zunächst überhaupt ganz verschwiegen wurde, und nur in den letzten Jahren zögernd veröffentlicht und zugegeben wird."

    1956 ging im englischen Calder Hall das erste Atomkraftwerk der westlichen Welt ans Netz. Zwei Jahre später folgten die USA mit ihrem ersten 60-Megawatt-Reaktor. Moderne Anlagen leisten mehr als das 2o-fache. Allmählich verblassten auch in Obninsk die Erinnerungen an die glorreichen 50er-Jahre. Aber das alte Kraftwerk hielt durch - trotz vieler technischer Probleme. Erst im April 2002 wurde es abgeschaltet. Demnächst soll es abgerissen werden.