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Gehirnerschütterungen
Ex-NFL-Spieler singt über den Verlust seines Gedächtnisses

Gehirnerschütterungen sind im nordamerikanischen Sport seit einigen Jahren ein großes Thema. Ehemalige Football- und Eishockeyspieler beklagen schwere Gesundheitsschäden nach der Sportkarriere. Der Ex-Footballer Ben Utecht hat das Problem in einem Song und einem Buch thematisiert.

Von Jürgen Kalwa | 16.10.2016
    Ben Utech in einem Spiel seiner Cincinnati Bengals gegen die Baltimore Ravens 2008 versucht einen Ball zu fangen.
    Ben Utecht in einem Spiel der Cincinnati Bengals gegen die Baltimore Ravens 2008 (imago)
    Der Kanadier Sidney Crosby gilt als eines der größten Talente, dass die Eishockeynation je hervorgebracht hat. Vor etwas mehr als einer Woche erlitt er jedoch zum wiederholten Mal in seiner Karriere eine Gehirnerschütterung, und niemand weiß, wann er wiederhergestellt sein wird. Das letzte Mal fiel er fast zwei Jahre lang aus.
    Sein Beispiel rückte ein Thema erneut in den Mittelpunkt: über 100 Ex-NHL-Profis haben die Liga verklagt, weil sie die für ihre gesundheitlichen Probleme zumindest mitverantwortlich machen. Es wird wohl schon bald zum Prozess kommen, bei dem herauskommen dürfte, was die Verantwortlichen wussten und warum sie so wenig getan haben, um das Problem zu bekämpfen.
    Football-Profi Ben Utecht hat seine Erfahrung mit Hilfe eines Songs und eines Buchs verarbeitet. Denn er wollte, dass er seine Erinnerungen noch zu Papier bringt, ehe er sie für immer aus seinem durch den Sport geschädigten Gedächtnis verschwinden, denn zahlreiche Wissenschaftler vermuten: Gehirnerschütterungen in sogenannten Kontaktsportarten führen zu Langzeitschäden, die Ex-Profis unter anderem das Erinnerungsvermögen rauben.
    Counting the days, while my mind is slippin' away
    Man kann als Sportler in einem Spiel wie American Football eine Menge erreichen. Selbst wenn man eigentlich lieber Pop-Sänger geworden wäre. So wie Ben Utecht, Super Bowl-Gewinner 2007 mit den Indianapolis Colts.
    Man riskiert allerdings viel. Nicht nur Knochenbrüche oder gerissene Muskeln. Utecht erlitt dazu mindestens fünf schwere Gehirnerschütterungen und musste deshalb früh mit 29 seine Karriere aufgeben. "I may not remember your name. Or the smell of the cool summer rain”
    Schon bald ahnte er, was er sich eingehandelt hatte: Immer größer werdende Lücken in seinem Gedächtnis. Und so setzte er sich ans Klavier. Er wollte seiner Frau und seinen vier kleinen Töchtern wenigstens etwas hinterlassen: diesen traurigen, prophetischen Song – "auch wenn ich mich irgendwann nicht mehr an euch erinnern werde: ‘You Will Always Be my Girls’”. Er singt:
    "I am in here counting the days.
    While my mind is slippin' away...
    I may not remember your name
    Or the smell of the cool summer rain
    And I will remember your smile
    and your laughter
    Long ever after this moment is gone
    You will always be my girls...”
    Aus dem Song wurde mehr: Ein stark beachtetes Buchprojekt mit dem Titel "Counting the Days while my Mind Slips Away” – "Ich zähle die Tage, während ich den Verstand verliere.” Die Autobiographie eines Mannes, der seine Erinnerungen retten will, ehe Demenz sie für immer auslöscht. Das Buch erschien im August.
    4.000 Sportler klagten
    Utecht ist alles andere als ein Einzelfall. Weshalb sich die National Football League vor einer Weile bereiterklärte, mehr als 700 Millionen Dollar für die Behandlung von ehemaligen Spielern mit Langzeitgehirnschäden bereitzustellen. Erzwungenermaßen, denn über 4.000 Ex-Profis waren mit einer Sammelklage vor Gericht gezogen.
    Die populärste Sportart Amerikas ist mit einer Epidemie konfrontiert, sagt Kimberley Archie, eine der engagiertesten Aktivistinnen in Amerika. Sie hatte bei ihrem Sohn erlebt, einem Footballspieler, dass die unreparable Gehirnerkrankung Chronische Traumatische Enzephalopathie, kurz CTE, schon bei jungen Menschen vorkommt. Sie sagt: "Vielen ist noch nicht klar, wie sehr diese Krise auch Heranwachsende betrifft. Wir haben 2.500 NFL-Profis und 10.000 Collegespieler. Aber über drei Millionen Kinder, die Football spielen. Die Zahlen sind astronomisch.”
    In diesen Tagen steht jedoch vor allem die National Hockey League im Zentrum. Auch sie wurde von ehemaligen Profis verklagt. Aber die Eishockey-Liga wehrt sich. Ihr Geschäftsführer Gary Bettman sagt: "Die Richterin, die dem Vergleich im NFL-Prozess zugestimmt hat, sagte in ihrer Begründung genau das, was ich gesagt habe: Es gibt keine Belege für einen kausalen Zusammenhang. Eishockey und Football kann man nicht vergleichen. Und zwar auch deshalb, weil wir uns verantwortungsbewusst um das Thema ‘Gehirnerschütterungen’ gekümmert haben. Wir gehörten zu den ersten.”
    "Geld hat eine enorme Macht"
    Für Ben Utecht sind solche Argumente nichts Neues. Die Beschäftigung mit der Materie hat ihn zu einem Spezialisten gemacht. Er ist inzwischen kreuz und quer in den USA unterwegs und hält Vorträge. Utecht erklärt: "Geld hat eine enorme Macht und beeinflusst alles, was im Geschäftsleben passiert. Deshalb gibt es diesen Widerstand. Dazu kommt: In der Medizin geht alles sehr, sehr langsam voran. In den nächsten zehn Jahren wird man mehr wissen, denn es laufen gezielte neue Studien. Sobald die Mediziner sagen: ‘Wir kennen jetzt alle Fakten’, kann niemand mehr widersprechen.”
    Ähnlich sehen dies amerikanische Kongressabegordnete, die sich erst vor wenigen Tagen mit bohrenden Briefen an die NHL gewandt haben. Die Liga gehört wie andere Sportverbände – darunter auch die FIFA – zu den Organisationen mit Chefmedizinern, die gerne bei Fachkongressen den Zusammenhang von Gehirnerschütterungen und Langzeitschäden wie CTE als "unbewiesene Spekulation” abtun.
    Dass die nächste Konferenz Ende Oktober in Berlin unter dem Titel "Concussion Consenus” diese Position aufgibt, ist unwahrscheinlich. Denn noch immer ist der Einfluss von Wissenschaftlern wie dem Australier Paul McCrory groß, der im Frühjahr in einem Vortrag in Melbourne noch einmal seine Haltung deutlich machte: "Können wir diese Debatte beeinflussen? Sind wir in der Lage, diese Sportarten und Verletzungen nicht zu dämonisieren und herauszustreichen, was für Richtlinien existieren? Wie wir Leute weiterbilden?”
    Dabei gibt es womöglich sogar so etwas wie einen Hoffnungsschimmer. Das zeigte sich bei Utecht, nachdem er mit mit einem speziellen Training zur Stärkung des Erinnerungsvermögens begann. "Ich habe entdeckt, dass du als Sportler nicht nur deinen Körper trainieren kannst, sondern auch dein Gehirn. Wenn du dich dabei auf bestimmte Bereiche konzentrierst, kannst du die Leistung verbessern”, sagt Utecht.
    Konkret: Konnte er früher kaum 20 Prozent der Fragen nach Ereignissen aus seinem Leben beantworten, liegt die Erfolgsquote mittlerweile bei mehr als 70 Prozent. Nur eines ist klar: Man muss möglichst früh mit diesem Training anfangen. Sonst verschwinden die Erinnerungen für immer.