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Geigerin Kopatchinskaja
"Heimat ist fast wie ein Klangraum"

Heimat sei kein feststehender, geografischer Ort, sagte die Geigerin Patricia Kopatchinskaja im Deutschlandfunk. Man könne sie überall finden: im Flugzeug, in einem Hotelzimmer oder im Konzertsaal. Sie selbst suche die Heimat in Musikstücken.

Patricia Kopatchinskaja im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 26.08.2016
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    Ihre Sehnenscheiden-Entzündung bezeichnete Patricia Kopatschinskaja im Deutschlandfunk als Gottesgeschenk. (picture alliance / dpa / Oliver Killig)
    Stefan Koldehoff: Patricia Kopatchinskaja ist eine weltberühmte Geigerin: Sie konzertiert mit den Wiener und den Berliner Philharmonikern, sie tritt in der New Yorker Carnegie Hall auf und spielt sowohl das klassische Geigenrepertoire, die großen Konzerte und Sonaten, als auch zeitgenössische Werke. Das Stück gerade ist Volksmusik aus Moldawien; aufgenommen hat sie es 2009 im Deutschlandfunk-Kammermusiksaal hier in Köln, als Patricia Kopatchinskaja mit ihren Eltern gespielt hat. Der Titel der CD lautet "Rhapsodie über meine Heimat", und im Booklet dazu schreibt sie: "Jeder Mensch hat eine Heimat – ein Land, eine Familie, oder eine Musik."
    Geboren in Moldawien als Kind zweier Musiker, mit zwölf Emigration mit den Eltern aus politischen Gründen nach Wien, Flüchtling, Studentin. Heute lebt sie mit Mann und Kind in der Schweiz, reist aber für Konzerte um die halbe Welt. Ich habe Patricia Kopatchinskaja für unsere Reihe über "Heimat" gefragt, was sie denn heute ihre Heimat nennen würde.
    Patricia Kopatchinskaja: Geografisch ist es nicht festzustellen, glaube ich. Es ist kein Ort, kein physischer Ort, würde ich sagen. Es ist ein Raum.
    "Das ist da, wo sich meine Seele entfalten kann."
    Koldehoff: Und was macht diesen Raum aus? Was ist das Besondere an diesem Raum, den Sie als Heimat bezeichnen würden?
    Kopatchinskaja: Das ist fast wie ein Klangraum, würde ich sagen. Das ist da, wo sich meine Seele entfalten kann, wo sie freistechen kann und die Musik findet, die sie nährt.
    Koldehoff: Und das kann überall auf der Welt sein?
    Kopatchinskaja: Absolut. Das kann in einem Flugzeug sein, das kann in einem Hotel, in einem Konzertsaal. Genauso gibt es aber auch die Gefahr, dass sie eben nicht entsteht. Umso intensiver sucht man sie dann und umso schmerzlicher ist dann diese Abwesenheit.
    Koldehoff: Das würde bedeuten, dass Heimat keine Sache der Vergangenheit ist, keine Sache von Erinnerungen, sondern eine Sache der absoluten Gegenwart für Sie?
    Kopatchinskaja: Es ist eine ständige Suche. Es ist eine Suche nach diesem Raum, wo man sich selbst sein kann. Weil man sagt ja: Wenn man zurück in die Familie kommt, will man über Dinge erzählen, die man erlebt hat. Man will einfach geborgen sein. Und wenn man jetzt wie ich irgendwie auf immer fremd ist, geografisch gesehen, so sucht man diesen Raum einfach in sich selber. Und das sind immer wieder diese Stücke, die ich spiele, die Gespräche mit den Komponisten, das Herausfinden der Seele von jedem einzelnen Stück und dann das in das Leben rufen.
    "Es ist wie ein Versuch, diese Vergangenheit in die Klänge zu übersetzen."
    Koldehoff: Wenn Sie jetzt zurückdenken an Ihre Kindheit, wenn Sie an Orte denken, wenn Sie an vielleicht Gerüche denken - als ich diese CD gehört habe, diese Rhapsodie über Ihre Heimat, da sind bei mir Bilder entstanden von einem Himmel, da sind Stimmungen bei mir entstanden, Bilder von einer Landschaft - das ist für Sie keine Heimat?
    Kopatchinskaja: Doch, das ist es. Aber ich suche sie in den Stücken. Es ist wie ein Versuch, diese Vergangenheit in die Klänge zu übersetzen und sie noch mal zu erleben, weil die Heimat gibt es eigentlich nicht mehr. Wenn ich zurückkehre nach Moldawien, erkenne ich die Menschen kaum. Das ist eine ganz neue Generation. Die Stadt sieht ganz anders aus, die Mentalität hat sich verändert. Die Kinder sprechen über andere Dinge. Diese Kindheit war eigentlich bei den Großeltern im Dorf, am Land, wo alles noch gut war. Und heute, wenn ich mich dort umsehe, ist viel mehr Elend und Sorge um den nächsten Tag. Früher war es doch anders.
    Koldehoff: Sie haben den zweiten Begriff, den ich vorhin zitiert habe, gerade selbst schon genannt: Die Familie, die für Sie auch Heimat sein kann. Wie wichtig war es für Sie, dass Sie 1989/90 mit Ihrer Familie zusammen das Land verlassen haben?
    Kopatchinskaja: Es war eine Notwendigkeit. Alle waren im Umbruch. Es war überhaupt nicht klar, was uns dort erwartet. Und besonders für die Musiker war es ja eine ganz lange quälende Zeit, in der wir nicht raus durften ohne einen Papierkrieg und spezielle Genehmigungen und so weiter. Die Sowjetunion war ja ganz zu. Und in den 90er-Jahren haben sich plötzlich all diese Wände zerstört und speziell die Künstler waren, glaube ich, sehr in den Westen orientiert und wir dachten, das ist die einzige Möglichkeit, diese Freiheit zu erlangen. Und so war es auch! Ich habe die beste Ausbildung in Wien bekommen mit einem Stipendium. Ich konnte Komposition studieren, Geige, es war wirklich das Fenster nach draußen, wo alles möglich war, wenn man fleißig, gewissenhaft ist und einfach auf sich eingestellt ist und das Beste daraus macht.
    "Spiel mit den Klängen."
    Koldehoff: Ihre Eltern sind auch Musiker. Sie haben gerade gesagt, Heimat suche ich eigentlich in den Stücken. Haben Sie das mit Ihren Eltern zusammen versucht, oder war das eine Sache, die Sie alleine probieren mussten?
    Kopatchinskaja: Natürlich ist es auch mit den Eltern. Die Volksmusik gehört ja zu unserem Leben, das war der Alltag zum Beispiel. Die Volksmusik war ja nicht die Musik, die man aufgeschrieben hat. Man musste sie irgendwie weitervermitteln. Es war früher mündlich, aber dann gab es auch Volksmusikstudium in Moldawien. Trotzdem war meine Mutter immer wieder mit einem Ohr am Radio und sie hörte Stationen aus Ex-Jugoslawien, aus Bulgarien, aus diesen Balkanländern, weil wir uns sehr für die Volksmusik von anderen Ländern interessiert haben. Und da waren wir Kinder sehr fasziniert, zusammen mit den Eltern herauszufinden, was das wohl für ein Takt ist: Ist das jetzt vier Viertel oder neun Viertel oder elf Viertel gab es. Das waren ganz faszinierende Rhythmen. Das war irgendwie unser Leben, unser Spiel, Spiel mit den Klängen.
    Koldehoff: Sie engagieren sich heute sehr für Kinder und Jugendliche in Moldawien, sind Botschafterin der Organisation Terre des Hommes. Um die Familien, verstehe ich das richtig, steht es in Moldawien im Moment nicht sehr gut.
    Kopatchinskaja: Nein. Es ist eigentlich ganz eine schlimme Situation und ich glaube nicht, dass sie sich verbessert hat. Man weiß ja nicht sehr viel über Moldawien, aber man weiß, dass es das ärmste Land in Europa ist. Und ganz besonders tun mir die Kinder leid, die von den Eltern verlassen werden, um im Ausland zu irgendeiner legalen oder illegalen Arbeit zu kommen. Und die Eltern glauben, dass sie das Beste für die Familie tun, wenn sie Geld nach Hause schicken. Aber die Kinder, die wachsen ohne Eltern zuhause auf. Sie bleiben vielleicht bei den Großeltern oder bei den Nachbarn, aber diese Erziehung, die man doch so intensiv zuhause braucht, die bekommen sie nicht.
    Deswegen finde ich diese Organisationen wunderbar, die dort arbeiten, die aus dem Westen kommen und uns helfen zu begreifen, wie wichtig das ist. Zum Beispiel Terre des Hommes organisiert Kinderkreise in den Dörfern. Sie versammeln die besonders gefährdeten Kinder, wo zum Beispiel ein Elternteil Alkoholiker ist oder die Familie verlassen hat oder wo eine Armut herrscht, die wir uns hier nicht vorstellen können. Da treffen sich die Kinder, aber auch die Eltern, die miteinander reden und versuchen, auch einander zu helfen. Das finde ich sehr gut. Es geht nicht um etwas schenken, etwas geben, sondern herauszufinden, was kann man selber aus dem eigenen Garten machen. Und da gibt es Erde und sie ist fruchtbar. Man muss nur wissen, was man am besten machen kann.
    "Ich möchte nicht, dass sie diese Heimat verlieren."
    Koldehoff: Ist das Ihr Versuch, für diese Kinder ein bisschen Heimat wiederherzustellen?
    Kopatchinskaja: Ja, weil ich möchte nicht, dass sie diese Heimat verlieren. Ich glaube im Nachhinein, in der Heimat zu bleiben und das Beste daraus zu machen, ist eigentlich…Ja, es fällt eigentlich leicht zu sagen, ich bin im Westen und habe unglaublich von all den Privilegien profitiert, die mir zugestanden sind, aus dem einen Grund, weil ich einfach das Glück hatte. Aber wenn man eigentlich ein Patriot ist, ist es wahrscheinlich besser, im Land zu bleiben und zu versuchen, es besser zu machen.
    Aber es ist sehr, sehr schwierig, vor allem für die Jugend. Es gibt Menschen, die ihr Wissen richtig einsetzen und sich für das Land wirklich engagieren, und es gibt solche, die herausfinden wollen, wie wir es schneller hinbekommen und so. Es ist für die Flüchtlinge, die vor 20, 30 Jahren geflüchtet sind, nicht sehr einfach, über dieses Thema zu reden.
    Koldehoff: Jeder Mensch hat eine Heimat, haben Sie geschrieben im Booklet, ein Land, eine Familie oder eine Musik. Das haben Sie vorhin schon beschrieben. Wie wichtig ist es, weil diese Musik jederzeit an jedem Ort für Sie eine Heimat bedeuten kann, wenn ich das richtig verstanden habe?
    Kopatchinskaja: Ja.
    "Das größte Geschenk, das mir Gott machen konnte."
    Koldehoff: Nun haben Sie gerade eine Zeit lang nicht spielen können, weil Sie eine Sehnenscheiden-Entzündung hatten. Was bedeutet das für Sie? Was fehlt Ihnen dann? Was ist dann nicht mehr da?
    Kopatchinskaja: Es war eigentlich das größte Geschenk, das mir Gott oder wer auch immer das ist machen konnte, weil ich zum ersten Mal länger zuhause war und zu meiner Tochter irgendwie gefunden habe. Die ist zehn Jahre alt und bis jetzt hatte ich so wenig Zeit für sie. Ich habe unglaublich viele Konzerte spielen müssen und dazwischen ist man sehr müde, sehr gestresst. Man muss sich immer wieder für das nächste vorbereiten. Es gibt nie wirklich diese Ruhe, in der man mit dem Kind ganz einfach über Dinge sprechen kann, die das Kind interessieren.
    Und es war, glaube ich, eine ganz wichtige, sehr, sehr wichtige Zeit für uns beide. Ja, ich kann sagen, dass ich ihr vielleicht auch ein bisschen das Gefühl von Heimat dadurch vermitteln konnte, weil ich gänzlich ihr zugewandt war, weil ich überhaupt nicht mehr Geige spielen konnte. Ich bin eigentlich sehr dankbar, dass mir das passiert ist. Ich glaube, es war das Einzige, was mich überhaupt stoppen konnte, so viel zu spielen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.