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"Geisel" von Guy Delisle
Im Kopf des Entführten

Der Kanadier Guy Delisle ist ein Pionier des Doku-Comics und bekannt für seine Reiseberichte. In seinem neuen Comic "Geisel" erzählt er erstmals keine persönliche Geschichte. Im Mittelpunkt steht der "Ärzte ohne Grenzen"-Mitarbeiter Christophe André, der von tschetschenischen Rebellen entführt wurde.

Von Kai Löffler | 21.03.2017
    Der kanadische Comiczeichner Guy Delisle.
    Der kanadische Comiczeichner Guy Delisle. (Olivier Roller / Fedephoto)
    Es ging alles sehr schnell. Hatte ich richtig gehört: "Milicia"? Von der Polizei waren die Kerle jedenfalls nicht.
    Es ist ein denkbar unsanftes Erwachen, als vier Männer in der Nacht Christophe André, einen Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, aus seinem Bett und in ein Auto zerren und mit ihm die Grenze nach Tschetschenien überqueren.
    Warum wollten sie, dass ich vor ihnen lief? Ich wurde panisch, meine Fantasie spielte verrückt.
    Die Angst, die André in diesem Moment verspürt hat, mag man sich kaum vorstellen. In Guy Delisles Comic verschmelzen die Schemen der Entführer mit dem Nachthimmel zu einer grauen Einheit, einer Leinwand, auf der André sich den eigenen Tod ausmalt: Auf den Knien, mit einer Kugel im Kopf.
    Meditative Erfahrung
    Geisel zeichnet die langsame Zermürbung durch Isolation nach. Die Idee dazukam dem Comic-Autor, der auf Reiseberichte spezialisiert ist, als er Christophe André durch Zufall bei einem Empfang traf.
    "Er saß neben mir, und so hab ich ihm eine Reihe von Fragen gestellt. Ich war überrascht, wie offen er über seine Erfahrung gesprochen hat. Ich dachte, als jemand der gekidnapped wurde, möchte man die Erinnerungen vielleicht lieber ruhen lassen. Aber das war bei ihm überhaupt nicht der Fall. Die Flucht war für ihn die beste Therapie und er bedauert nichts. In gewisser Hinsicht war es also sogar eine positive Erfahrung für ihn."
    Dass André letztendlich freikam ist bekannt - wie genau allerdings ist eine der Fragen, die den Comic so spannend - und optimistisch – machen. Denn tatsächlich ist Geisel weit weniger bedrückend als man meinen würde. Die Isolationshaft in der Fremde wird für André zu einer fast schon meditativen Erfahrung, die Ungewissheit weckt seine Neugier und facht seine Phantasie an. Der französische Titel des Comics ist s'enfuir, was soviel heißt wie "entkommen". Damit nimmt Delisle auf der obersten Erzählebene das Ende vorweg, befreit aber vor allem seinen Protagonisten aus der Opferrolle.
    "So klingt es wesentlich aktiver. Und er entkommt eben auch in seinen Gedanken, der Titel hat also zwei Bedeutungen. Vor der eigentlichen Flucht findet eben schon eine Flucht in seinem Kopf statt. So hat er zum Beispiel in Gedanken Napoleanische Schlachten rekonstruiert, um die Zeit zu vertreiben."
    Durchschnittsmensch in Extremsituation
    Saint-Hilaire wird von drei Seiten bedroht und befielt einen Blitzangriff mit Bajonetten, der ihn entlastet. Im Zentrum nimmt Bernadotte Blasowitz ein, während Soult den Pratzeberg zurückgewinnt und dort seine Kanonen aufstellt.
    "Es ist wie in Gefängnisfilmen. Egal, warum die Leute im Gefängnis sind, man will wissen, ob sie ausbrechen. Das ist fesselnd, besonders im Fall von Christphe, der auf den ersten Blick ein durchschnittlicher Mensch in einer Extremsituation ist. Deshalb kann man sich als Leser identifizieren. Das Risiko, Opfer einer Entführung zu werden, ist sehr hoch, gerade in diesen Ländern. Man muss einfach nur Pech haben."
    Die scheinbar banalen Beobachtungen und Gedanken, die in Delisles früheren Werken wie Pjöngjang oder Aufzeichnungen aus Jerusalem am Rande der Panels den Ereignissen Textur verliehen haben, stehen bei Geisel im Mittelpunkt. Delisle lässt den Leser an der Monotonie von Christophe Andrés tristem Alltag teilhaben, und jeder Ausbruch aus dieser Routine - wenn seine Entführer ihm ein Spiegelei oder eine Zigarette zugestehen, selbst ein Geräusch im Nebenzimmer - wird zu einem aufregenden Geschenk.
    Lang und minimalistisch
    Auch die Zeichnungen sind minimalistisch, oft bestehen ganze Seiten nur aus einem kaum variierten Detail vor grauem Hintergrund, André Christophes Oberkörper oder die Matratze, auf der er drei Monate seines Lebens verbringt. Delisle arbeitet mit wenigen, präzisen Tuschestrichen und monochrom eingefärbten Flächen, die - passend zur Materie - dunkler sind als man es aus seinen früheren Comics kennt. Außerdem ist "Geisel" mit seinen mehr als 400 Seiten ein sehr langer Comic geworden, selbst für Guy Delisle.
    Cover "Geisel" von Guy Delisle.
    Cover "Geisel" von Guy Delisle. (Guy Delisle)
    "Ich wollte nicht, dass die Leser einfach so entkommen. Man soll beim Lesen wirklich fühlen wie die Zeit vergeht, so als ob man es selbst erlebt. Selbst wenn man schnell liest, steckt man eine Weile an diesem Ort fest."
    Ähnlich wie Joe Sacco, dessen letzte Werke ein historisches Leporello und ein schrill-satirischer Underground-Comic waren, löst sich Guy Delisle erfolgreich vom autobiografischen Doku-Format, dass er entscheidend mitgeprägt hat. Sein trist-minimalistisches Experiment fordert vom Leser viel Geduld ein. Nach einer Weile verschmelzen Tage, Panels und Seiten miteinander, das Gefühl für Zeit kommt abhanden und die Erfahrung der Isolation nimmt eine surreale Dimension an. Dieses Gefühl fängt Guy Delisle in "Geisel" so kompetent ein, dass die größte Stärke des Comics ihn gleichzeitig zur Geduldprobe werden lässt.
    Delisle: "Ich wollte also nicht sagen 'Schnitt: zwei Wochen später', jetzt ist sein Bart etwas länger, er ist etwas dreckiger und müder. Nein, ich wollte fast jeden Tag zeigen, so dass man gemeinsam mit ihm den Verstand verliert.
    Guy Delisle: "Geisel - Die wahre Geschichte von Christophe André"
    Reprodukt-Verlag, Berlin 2017, 432 Seiten, 29,00 Euro.