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Geistesgeschichte
"Roland Barthes. Landschaften der Theorie"

Von Klaus Englert | 18.08.2014
    Ettes Buch erkundet die Denk- und Schreiblandschaften von Roland Barthes. Es handelt von den Überschwemmungen in Paris, vom Eifelturm und der Pariser Stadtlandschaft, von den Landschaften Griechenlands. Schließlich vom verschiedenen Blick auf die Landschaften: dem wissenschaftlichen und literarischen Blick, dem fotografischen und poetischen Blick. Ottmar Ette erkundet, wie Barthes durch diese unerwarteten Verknüpfungen zu einem neuen Sehen und Denken beiträgt.
    Eine berühmte französische Karikatur von Maurice Henry zeigt vier Indianer im Lendenschurz, die um ein Lagerfeuer sitzen: Michel Foucault ergreift gestikulierend das Wort, Jacques Lacan sitzt stoisch mit verschränkten Armen daneben, Claude Lévi-Strauss vertieft sich in ein Manuskript. Nur Roland Barthes, der vierte Indianer, ist dem Wortführer zugewandt: Er stützt seine Arme nach hinten ab und hört seinem Gegenüber aufmerksam zu.
    Als Maurice Henry 1967 die Karikatur veröffentlichte, war Roland Barthes im Zenith seiner kometenhaften Karriere angelangt. Der französische Semiologe befand sich gerade in einem folgenschweren Umbruch: Ein Jahr zuvor fügte er noch die Bausteine seiner streng strukturalistischen Literaturtheorie zusammen. Doch bereits im Revolutionsjahr 1968 stellt er diese Methode, die den Text als Ordnungsgefüge enthüllt, bereits radikal in Frage: In einer lustvollen Balzac-Lektüre vergleicht er den Text mit einem "Sternenhimmel", der unendlich viele Zugänge bietet. Plötzlich war die Redeweise vom "pluralen Text" geboren, einem Text, dessen Struktur nicht homogen, sondern – wie Roland Barthes betont - "ständig gebrochen" ist. Wenig später publizierte Barthes, der die seltene Gabe besaß, Wissenschaft und Literatur miteinander zu vereinen, "Le plaisir du texte" – "Die Lust am Text".
    In einem Interview erklärte er damals, weshalb es ihm wichtig war, ausgerechnet über die "Lust am Text" zu schreiben:
    "Die gesamte westliche Philosophiegeschichte hat den Begriff der Lust zensiert. In unserer Denktradition gibt es nur sehr wenige Philosophen der Lust: Epikur, de Sade, Diderot. Sprechen wir über die Lust, dann müssen wir gegen einen kulturellen Widerstand ankämpfen."
    Roland Barthes zelebrierte die Haltung des "fröhlichen Wissenschaftlers". Seit seiner Umbruchphase von 1968 hielt er an dem nietzscheanischen Selbstverständnis fest. Und so skizzierte er 1977, während seiner Antrittsvorlesung im legendären Collège de France, die neue Richtung der Semiologie: Nicht als knochentrockene Disziplin, sondern als betont lustvolle, schöpferische Wissenschaft. In einer aufgewühlten Zeit, in der sich die politischen Diskurse verfestigten und gegenseitig abschotteten, wollte Barthes zu einem neuen Denken, einem neuen Sehen aufbrechen:
    "Ich würde gerne die Schriftsteller und linken Intellektuellen davon überzeugen, wie wichtig der Begriff der Lust in der Texttheorie ist. Ich bin davon überzeugt, dass sich die beiden Bereiche gar nicht voneinander trennen lassen: das soziale, politische und ideologische Engagement eines Textes gehört zur Macht der Lust, zur erotischen Macht."
    Le plaisir du texte von 1973 ist Roland Barthes' Manifest für eine disziplinübergreifende, lustbetonte Semiologie. Es sollte das wissenschaftlich-literarische Programm seiner letzten Lebensjahre werden. Nun hat sich der Potsdamer Romanist Ottmar Ette eingehend mit Barthes' offener Texttheorie auseinandergesetzt. Ette entwirft in seinem Büchlein Roland Barthes. Landschaften der Theorie kaleidoskopartig die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten seines Textverständnisses. Er beginnt mit einem wenig bekannten Essay, der die Pariser Stadtlandschaft zur Zeit der verheerenden Überschwemmung von 1955 kommentiert.
    In diesem kurzen Text lässt sich bereits die eigenwillige Verschränkung von Welt und Text herauslesen, die charakteristisch für Barthes' Spätschriften ist. Die untergetauchte Welt der Häuser und Straßen wirkt plötzlich lustvoll verfremdet. Nichts von der gewohnten Ordnung der Dinge bleibt unangetastet. Roland Barthes sieht darin die "Entzauberung der Welt" rückgängig gemacht. Sein Kommentar spielt mit surrealistischen Versatzstücken: Umspült von der glatten Oberfläche des Wassers hätten die Gegenstände ihre Erdgebundenheit verloren und ihr fantastisches, karnevaleskes Wesen enthüllt. Diese Lesart leugnet nicht die menschliche Katastrophe, versucht aber das Ereignis in einen neuen Deutungshorizont zu stellen. Der Naturkatastrophe entlockt Barthes die Zeichenhaftigkeit kultureller Phänomene. Derart werden die im bürgerlichen Mythos trennscharf unterschiedenen Welten aufeinander bezogen. Im Kreuzungspunkt beider tauchen plötzlich neue, lebendige Landschaften auf. Das ist der überraschende Fokus von Barthes' Text- und Weltverständnis. Ottmar Ette zeigt, wie er diese Landschaften, diese "Landschaften der Theorie" entwirft:
    "Das Spannende bei Barthes ist, dass er dies nicht nur mit den Mitteln der Philosophie, der Kulturtheorie, selbstverständlich des Strukturalismus und des Poststrukturalismus tut, sondern wesentlich mit den Mitteln der Literatur. Diese Mittel der Literatur führen sprachlich immer zu einer Überraschung. In den Mythologies steht am Beginn immer eine Überraschung: Die Überführung eines bestimmten Denkens aus einem Bereich in einen anderen, den man so nicht erwartet. Aus dieser Spannung ( ... ) entsteht alles. ( ... ) Barthes übersetzt in andere Bereiche der Kultur, der Werbung, ( ... ) des Films ( ... ) und Künste und verändert dabei in diesem Transfer den Gegenstand und die Methoden seines Denkens so, dass man von einer grundlegenden Transformation reden kann"
    Für Ottmar Ette liegt in dieser Methode der Kern von Le plaisir du texte:
    "Man kann darin auch etwas von Verstellung sehen und in dieser Verstellung liegt immer ein Moment der Lust. In der Möglichkeit, auch etwas ganz anderes zu denken, den Gegenstand selbst auch zu transformieren, aber auch diejenigen, die diesen Gegenstand denken können"
    Ottmar Ette denkt dabei an die Mythologies von 1957. Roland Barthes greift in dem populär gewordenen Buch auf Alltagsphänomene zurück, die er in seiner Personalunion von Semiologe und Schriftsteller deutet. Legendär ist sein Kommentar zum "neuen Citroën", der von den Franzosen angebeteten D.S., der Göttin. Bereits im ersten Satz überrascht Barthes mit einem gewagten Vergleich: "Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist." Als Barthes 1957 von einem Journalisten gefragt wurde, ob sich nun unser Weltbild durch den Citroën gewandelt habe, erwiderte er:
    "Der neue Citroën, der 1955 auf den Markt kam, war gleichsam ein magisches Objekt - strahlend, mit bruchlosen Übergängen, mit vielen Glasscheiben. Er erweckte den Anschein, als sei er, wie in den Erzählungen Voltaires, vom Himmel gefallen."
    Ottmar Ette hat sich leider nicht vom lustvollen Kosmos Roland Barthes' anstecken lassen, der sich leichthändig zwischen den Genres bewegt. "Die Landschaften der Theorie" eifern zwar dem großen Vorbild nach. Doch Roland Barthes' Anspruch, Wissenschaft und Literatur miteinander zu versöhnen, kann Ette nicht einlösen. Aber immerhin erreicht es der Potsdamer Literaturwissenschaftler, das Interesse an dem 1980 verstorbenen Indianer lebendig zu erhalten, der im Pariser rive gauche wie ein Schamane verehrt wurde. Das ist nicht wenig.
    Ottmar Ette: "Roland Barthes. Landschaften der Theorie"
    Konstanz University Press 2013, 153 Seiten, 16,90Euro