Dienstag, 23. April 2024

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Geistliche Chormusik
Raritäten von Tschaikowsky

Peter Tschaikowsky hat auch eine Reihe von geistlichen Chorwerken geschrieben, diese Werke liegen aber im Schatten der Orchestermusik. Jetzt hat der Lettische Rundfunkchor unter Sigvards Kļava beim Label Ondine eine Aufnahme mit Tschaikowskys Chormusik veröffentlicht - von hellem und lichten Klang geprägt.

Am Mikrofon: Christoph Vratz | 01.05.2020
    Büste am Grab Peter Tschaikowskys auf dem Tichwiner Friedhof im Alexander-Newski-Kloster in St. Petersburg
    Büste am Grab Peter Tschaikowskys auf dem Tichwiner Friedhof im Alexander-Newski-Kloster in St. Petersburg (imago / INSADCO)
    Musik: Peter Tschaikowsky. Ganznächtliche Vigil op. 52, Nr. 1
    Die Veröffentlichung von russisch-orthodoxer Kirchenmusik lag lange Zeit in den Händen der Direktoren der Petersburger Hofsängerkapelle. Diese muss man sich als eine Art Behörde vorstellen, als zentrale staatskirchliche Institution, die allein darüber entschied, welche Musik in den Gotteshäusern gesungen werden durfte. Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts kippte dieses Monopol. Diesen Wandel erstritt Peter Tschaikowskys Verleger vor Gericht und der Komponist selbst profitierte natürlich auch von dieser Entscheidung, denn er konnte nun selbst geistliche Werke komponieren. 1877 und 78 war bereits die "Göttliche Liturgie des Heiligen Johannes Chrysostomus" entstanden, eine musikalische Hommage an den berühmten Erzbischof von Konstantinopel im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert. Die Veröffentlichung dieses Werkes hatte Tschaikowskys Verleger seinerzeit erstritten, danach war der Weg für weitere geistliche a-cappella-Kompositionen frei.
    Musik: Peter Tschaikowsky. Ganznächtliche Vigil op. 52, Nr. 1
    Bearbeitung alter Kirchenmelodien
    Vier Jahre nach der "Chrysostomus-Liturgie" begann Tschaikowsky im Frühsommer 1881 sein zweites großes Kirchenwerk mit dem Namen "Ganznächtliche Vigil". Die Idee hinter diesem Werk liefert der Untertitel gleich mit: "Versuch der Harmonisierung liturgischer Melodien". Was damit gemeint ist, erläutert Tschaikowsky in einem Brief vom Juni 1881: "Ich trete nicht als selbständiger Künstler auf, sondern als Bearbeiter unserer alten Kirchenmelodien." (gemeint sind die traditionell einstimmigen kirchentonalen Gesänge). "Wenn ich auch jene nicht befriedige" - heißt es in diesem Brief weiter- , "die von dieser Arbeit poetische Eindrücke erwarten, so erweise ich vielleicht unserem liturgischen Gesang einen wichtigen Dienst - in dem Sinne, dass ich nach Kräften dazu beitrage, ihn von fremden Elementen zu befreien." Hier spielt Tschaikowsky auf italienische Einflüsse vom Ende des 18. Jahrhunderts an, die den ursprünglichen Charakter der russischen Chormusik vorübergehend in Gefahr brachten. Tschaikowsky wollte, wie er geradezu pathetisch anmerkt, "unserer Kirche ihr Eigentum zurückgeben".
    Was aber ist mit dem Titel "Ganznächtlicher Vigil" überhaupt gemeint? Es handelt sich um nächtliche oder früh-morgendliche Stundengebete, vor allem für den Ostersamstag, aber auch für andere Sonn- und Feiertage. Die Texte basieren auf Psalmen.
    Musik: Peter Tschaikowsky. Ganznächtliche Vigil op. 52, Nr. 3
    "Für mich hat viel von ihrem poetischen Reiz bewahrt", erklärt Tschaikowsky ungewöhnlich bekenntnishaft in einem Brief an seine Gönnerin Nadehsda von Meck. "Ich liebe auch sehr die Abendandachten. Sonnabends in eine kleine Kirche zu gehen, im halbdunklen Raum von Weihrauchwolken umfangen zu stehen, tief in sich selbst zu sinken und Antworten auf die ewigen Fragen: warum? wann? wohin? weshalb? zu suchen, aus besinnlichen Betrachtungen aufzuwachen, wenn der Chor zu singen beginnt, sich ganz dem poetischen Reiz dieses Psalms hinzugeben, von stillem Entzücken durchdrungen zu sein […] oh, wie liebe ich das alles."
    Musik: Peter Tschaikowsky. Ganznächtliche Vigil op. 52, Nr. 9
    In seiner "Ganznächtlichen Vigil" op. 52 hat Tschaikowsky die Melodien in die Oberstimme gelegt und frei harmonisiert. Auf Dissonanzen oder auf eine fugenartige Verarbeitung der Themen verzichtet er.
    2019 bereits eine Veröffentlichtung mit Chorwerken von Tschaikowsky
    Nachdem der Chor des Lettischen Rundfunks unter Sigvards Kļava im Januar 2019 eine erste CD mit Chorwerken von Peter Tschaikowsky aufgenommen hat, mit der "Liturgie des Heiligen Chrysostomus" als Schwerpunkt, ist jetzt diese zweite Einspielung erschienen. Beide Produktionen zusammen enthalten das vollständige geistliche Chorwerk des Komponisten - eine diskografische Rarität also.
    Musik: Peter Tschaikowsky. Ganznächtliche Vigil op. 52, Nr. 6
    Entstanden ist diese CD in der Johannis-Kirche mitten in der Altstadt von Riga. Die Akustik dieser Kirche ist bestens geeignet für Chormusik-Aufnahmen. Dafür kann die neue Einspielung als ideales Beispiel dienen. Wenn sich sonst für die Aufnahmetechniker der Kirchen-Hall als nur schwer händelbares Problem erweist (ähnlich wie bei Orgel-Produktionen), so ist der Spagat zwischen einem räumlichen und gleichzeitig natürlichen und transparenten Klangbild in diesem Fall äußerst gelungen. Präsenz, Nähe und Weite bilden eine ideale Mischung.
    Musik: Peter Tschaikowsky. Ganznächtliche Vigil op. 52, Nr. 7
    Auch unter künstlerischen Gesichtspunkten kann die neue Produktion überzeugen. Der 1940 gegründete lettische Rundfunkchor ist bei weitem keine unbekannte Größe in der europäischen Chorszene. Aufnahmen mit Werken von Peteris Vasks, Arvo Pärt oder Sergej Rachmaninow haben die Qualität des Ensembles bereits hinreichend dokumentiert.
    Anderer Klang als russische Ensembles
    Auch diese Tschaikowskys-Einspielung lebt von einem durchgehend lichten, hellen Klang. Insofern setzen sich die Letten hörbar von den eher dunkel grundierten russischen Ensembles ab, deren sonor-tiefes Timbre eher für eine gewisse Mystik steht. Nicht so hier.
    Sigvards Kļava, der den lettischen Chor seit 1992 leitet, arbeitet aus Tschaikowskys Musik eine gewisse Sanftheit heraus. Alles Strenge wird von vornherein gemieden. Dass der fortwährend fließend-homophone Tonfall nicht monoton wirkt, liegt an den vielen feinen dynamischen Schattierungen, wie hier im dreizehnten Gesang der "Ganznächtlichen Vigil". Leuchtendes Bekenntnis und intime Nachdenklichkeit fügen sich in ihren jeweiligen Blöcken zu einer stimmigen Einheit.
    Musik: Peter Tschaikowsky. Ganznächtliche Vigil op. 52, Nr. 13
    Auch Tschaikowskys behutsam gewählte, teils melancholisch wirkende Harmonien werden in dieser Einspielung auf sanft-kluge Weise hörbar gemacht.
    Die Länge der einzelnen Gesänge bewegt sich zwischen nur wenigen Sekunden, teils unter einer Minute, bis zu fast sieben Minuten. Das bedeutet für die Sänger, dass sie die jeweiligen Spannungsbögen auf unterschiedliche Weise formen und halten müssen. Auch das gelingt den Letten unter Sigvards Kļava überzeugend. Der Chor erscheint nicht als statische Masse, sondern erweist sich als ein wendiges, klangschönes und bestens balanciertes Kammer-Ensemble. Jetzt folgt aus der "Ganznächtlichen Vigil" der vierte Gesang in voller Länge. Jesus, der Gottessohn, wird als freudenreiches Licht gepriesen.
    Musik: Peter Tschaikowsky. Ganznächtliche Vigil op. 52, Nr. 4
    Peter Tschaikowskys chormusikalische Linien verlangen eine Mischung aus Gradlinigkeit und Freiheit, sie brauchen Gruppendisziplin einerseits und individuelle Variabilität andererseits. Genau diese Mischung demonstrieren der lettische Rundfunkchor und sein Dirigent Sigvards Kļava auf ihrer neuen CD.
    Neben der "Ganznächtlichen Vigil" enthält die Aufnahme noch vier einzelne Gesänge, darunter den "Hymnus zu Ehren der Heiligen Cyrill und Methodius". Tschaikowsky hat diesen Gesang zum 1000. Todestag des Heiligen Method komponiert. Erstmals öffentlich aufgeführt wurde er im April 1885 von Studenten des Moskauer Konservatoriums.
    Musik: Peter Tschaikowsky. Hymnus zu Ehren der Heiligen Cyrill und Methodius
    Das mit "Legende" übertitelte Stück stammt vom Herbst 1883 und wurde zunächst für Stimme mit Klavier geschrieben, als Teil der 16 Kinderlieder op. 54. Erst einige Jahre später hat Tschaikowsky das Lied für Chor a cappella eingerichtet.
    Musik: Peter Tschaikowsky. Legende
    Der schlichte Charakter von "Legende" wirkt nie kitschig. Der Lettische Radiochor gestaltet das Lied mit einer Diskretion und mit einer unverbildeten Überzeugungskraft, die den Hörer gewinnen möchte, nicht belehren oder gar überrumpeln.
    Das gilt auch für das Schlussstück auf dieser CD, "Der Engel rief". Im Februar 1887 hatte der Vorsitzende der Russischen Chorgesellschaft bei Peter Tschaikowsky wegen eines neuen Werkes angefragt. Den Text entnahm der Komponist der "Chrysostomus-Liturgie". Dieser Hymnus zu Ehren der Gottesmutter wurde in der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten gesungen. Die nur 47 Takte sind nicht nur das letzte Zeugnis des Chor-Komponisten Tschaikowsky, sie bilden auch ein sehr farbenreiches Spektrum, in dem äußerer Jubel, Glanz und Triumph mit einer zurückgenommenen Innensicht verknüpft werden. Auch hier beweist der Chor des Lettischen Rundfunks all seine Qualitäten. Das klingt mal zart, mal freudig erregt – und immer auffallend kultiviert.
    Musik: Peter Tschaikowsky. Der Engel rief
    Peter Tschaikowsky: Ganznächtliche Vigil und andere Chorwerke
    Chor des Lettischen Rundfunks
    Leitung: Sigvards Kļava
    Ondine