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Geistreiche Jour-Fixe-Gesellschaft

Im Mittelpunkt von Silvia Bovenschens Roman steht eine Gruppe älterer Akademiker, die sich zum Jour Fixe zum Gedankenaustausch trifft. Allerdings ist "Verschwunden" ein ziemlich trickreiches Buch. Es geht nur vordergründig um die Geschichten von den notwendigen Verlusten des Lebens, während hintergründig eigentlich vom Erzählen an sich erzählt wird.

Von Gisa Funck | 09.07.2008
    In ihrem Roman "Verschwunden" zeigt sich Silvia Bovenschen einmal mehr als Melancholikerin, die alles, nur nicht melancholisch klingen möchte. Dafür misstraut die ehemalige Adorno-Schülerin und postmodern geschulte Literaturwissenschaftlerin viel zu sehr dem eigenen, verklärenden Blick.

    Eine Gruppe älterer Akademiker - acht Frauen, vier Männer - trifft sich regelmäßig zum Jour Fixe. Man kennt das. Auch die etwas erlauchte, manchmal ins Überempfindlich-Hysterische abgleitende Atmosphäre solcher Gesprächsrunden von in die Jahre gekommenen Intellektuellen, die in Silvias Bovenschens neuem Buch entweder kurz vor der Rente stehen - oder ihr Berufsleben bereits hinter sich haben.

    In Boccacios Decamerone diente das gegenseitige Geschichtenerzählen noch dazu, sich vom Grauen der todbringenden Pest abzulenken. In den Pariser Salons und Wiener und Berliner Cafes des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hingegen galt das Auftrumpfen mit geistreichen Anekdoten als Wettkampf, um sich als Geistesmensch vor anderen hervorzutun. Bovenschens Jour-Fixe-Gemeinschaft aus "Verschwunden" hat nun ein wenig von beidem an sich. Halb fungiert das Geschichten-Erzählen hier wie im Decamerone als Tröstungsritual angesichts der eigenen Vergänglichkeit. Halb ist es, wie bei den einstigen Salon-Bohemiens, Mittel zur Image-Aufwertung. Allerdings gehen die einzelnen Erzähler hier nicht ganz freiwillig ans Werk. Und auch das Thema ihrer Geschichten ist nicht frei wählbar.

    Denn die Idee für die Sammlung geht auf eine gewisse "Daniela Listmann" zurück, eine der Damen aus dem Kreis, die in Übereinstimmung mit ihrer Schöpferin an den Rollstuhl gefesselt ist. Und Listmann erklärt gleich zu Beginn von "Verschwunden" in einer "Vorbemerkung":

    "Das vorliegende Buch versammelt Erzählungen, die ich meinen Freunden abnötigte. Vom Verschwinden sollte in beliebiger Weise die Rede sein. Das war meine Vorgabe. In diese Sammlung gehören notwendig die letzten Niederschriften, die meine Freundin Celia ihrem Tagebuch anvertraute und mir ausdrücklich als Beitrag für dieses Buch zueignete. Schließlich entschloss ich mich, auch die längeren Ansprachen aufzunehmen, die meine Freundin Frederike ihren Freunden bei Gelegenheit unserer regelmäßigen Zusammenkünfte vortrug, sowie den Mitschnitt einiger Gespräche, in denen meine Sammlung bewertet wurde. "

    Weil sie als Rollstuhlfahrerin "kaum noch in die Welt (kommt)", wie es heißt, ist Daniela Listmann begierig darauf, Geschichten anderer zu sammeln. Geschichten "vom Verschwinden", wie sie sagt.

    Doch was heißt das eigentlich? Denn schließlich: handeln nicht alle Geschichten bei näherer Betrachtung irgendwie immer vom Verschwinden? Ja, entsteht Literatur nicht gerade erst aus der Verlust-Erfahrung? Oder doch zumindest aus dem Gefühl heraus, dass etwas fehlt? Dass etwas noch nicht geklärt ist? Oder dass man sich an etwas erinnern möchte, bevor es ganz vergessen ist? Erzählen könnte man in diesem Sinne als kompensatorischen Akt definieren, der eine Lücke schließen soll. Die Lücke zwischen dem, was ist und dem was nicht. Oder nicht mehr ist. Oder noch nicht ist.

    Schon diese Überlegungen zeigen, dass es sich bei "Verschwunden" um ein ziemlich trickreiches Buch handelt. Sind hierin doch nur vordergründig Geschichten von den notwendigen Verlusten des Lebens versammelt, während hintergründig eigentlich vom Erzählen an sich erzählt wird. Denn egal, ob in einer Anekdote nun von einem verlorenen Schmuckstück, einem geklauten Computer, einer verschollenen Zugbekanntschaft oder der aufgegebenen Illusion des Künstlerseins die Rede ist: hinter all’ diesen Schwund-Chroniken schwingt bei Bovenschen doch immer auch die Grundsatzfrage nach Funktions- und Wirkungsweise von Literatur als solcher mit. Oder, wie Anton - einer der vier Männer des Erzählkreises – es einmal ausdrückt:

    "Wir erzählen uns doch dauernd irgendwelche Geschichten. Und du kannst in jeder Geschichte irgendetwas verschwinden lassen. Das ist doch völlig belanglos. Es kommt einzig darauf an, wie du eine Geschichte erzählst. Und wem du eine Geschichte erzählst und wem du wann eine Geschichte erzählst. (...) Wir verbinden uns über diese Mitteilungen mit den anderen. Emotionaler und geistiger Kitt. Wir konturieren unser Ich mit diesen Erzählungen, damit wir für andere sichtbar, spürbar, erkennbar bleiben. Du musst nur zu einer Verabredung zu spät kommen, und schon bist du genötigt, eine Geschichte zu erzählen, eine wahre oder eine flugs erlogene. "

    Schon in ihrem Überraschungsbestseller "Älterwerden" vor anderthalb Jahren hat Silvia Bovenschen das menschliche Erinnerungsvermögen als höchst "unzuverlässige Veranstaltung" gebrandmarkt. Entsprechend groß ist auch jetzt ihr, beziehungsweise "Daniela Listmanns" Misstrauen gegenüber den Erzählungen der Jour-Fixe-Teilnehmer. Weswegen es die Autorin auch in "Verschwunden" nicht einfach nur dabei belässt, eine Geschichte nach der anderen wiederzugeben.

    Stattdessen springt sie ständig zwischen den literarischen Gattungen und Figuren-Perspektiven hin und her. Umkreist das Thema, um auf diese Weise dem Produktionsprozess des Erzählens selbst besser auf die Schliche zu kommen.

    Wie wahr ist das, was wir rückblickend über unsere Verluste, Verfehlungen, Sehnsüchte und Enttäuschungen mitteilen? Was blenden wir aus? Was übertreiben wir? Um den Antworten auf solche Fragen genauer auf den Grund zu gehen, gibt Bovenschens alter ego Daniela Listmann in "Verschwunden" neben den eigentlichen Nacherzählungen auch Gesprächsmitschnitte aus dem Jour Fixe wieder. Kommentierende Tagebuchnotizen ihrer lebensmüden Freundin Celia, die sich am Ende des Buches tatsächlich das Leben nimmt. Und Anklage-Monologe der ewig nörgelnden "Endzeitkaiserin" Frederike, die als Vorsitzende des Kreises einen ausgeprägten Hang zu apokalyptischen Weltbetrachtung besitzt. Vor allem aber lässt Listmann auch regelmäßig Anton und Bea in Dialogform zu Wort kommen, die in "Verschwunden" das kritische Außen repräsentieren. Und ziemlich genau die Rolle einnehmen, die die beiden meckernden Balkon-Opas in der Muppet-Show innehatten.

    Denn Bea gehört nicht zum Jour Fixe und darf nach dem Willen Daniela Listmanns als einzige Figur auch keine Geschichte zum Buch beitragen. Dieser Ausschluss ärgert sie natürlich und macht sie umso neugieriger auf das Projekt. Immer wieder verabredet sich Bea deshalb mit Anton, der zum Kreis gehört, um ihn auszuhorchen. Und sich über Listmanns Sammlung zu mokieren:

    "Bea: Wird Daniela denn ihre Ballung unter die Neuerscheinungen mischen?

    Anton: Was meinst du mit "Ballung"?

    Bea: Na, ihr Mischwerk, ihr Konglomerat, ihr Geschichtenkonvolut, ihr Plapper-Cluster, ihre Erzählhäufelung, ihren Narrationskehrricht, ihren Fabulierschutt, ihr Hybridgespinst. Frag’ nicht so verheuchelt, du weißt genau, was ich meine: diese Schwundanthologie, von der wir die ganze Zeit reden, für die sie auch ein oder zwei Geschichten von dir unter Einsatz der Mitleidsregung erpresst hat.

    Anton: Von Erpressung kann gar keine Rede sein. (...)

    Bea: Von mir aus – gerne! (...) Aber meine Geschichte vom Verschwinden, die kriegt sie jetzt nicht mehr, und wenn sie auf Knien zu mir rutscht ... "

    In "Verschwunden" zeigt sich Silvia Bovenschen einmal mehr als Melancholikerin, die alles, nur nicht melancholisch klingen möchte. Dafür misstraut die ehemalige Adorno-Schülerin und postmodern geschulte Literaturwissenschaftlerin viel zu sehr dem eigenen, verklärenden Blick. Insofern durchweht auch ihr neues Buch zwar ein Hauch von Wehmut. Alle Anwandlungen von sentimentalem Pathos aber, falls es sich überhaupt einmal entweder bei der überschäumenden Frederike oder bei der suizidalen Celia Bahn bricht, werden immer wieder sofort durch den Kommentar einer anderen Figur relativiert.

    Diese Technik eines ständigen In-Zweifel-Ziehens von Aussagen hat bei Bovenschen allerdings auch ihren dramaturgischen Preis. Denn dadurch wird in "Verschwunden" genau das, was eigentlich erst jedes "Verschwinden" für andere anrührend macht – nämlich: der Verlustschmerz – ebenfalls relativiert und abgedämpft. Bovenschens Buch liest sich bis zum Schluss wie ein semantisches Spiel, auch wenn die Verlust-Geschichten darin zunehmend existenzieller ausfallen.

    Denn, was zunächst noch einigermaßen harmlos mit einer aus dem Blick geratenen Zugbekanntschaft, einer verlorenen Urlaubsliebe oder einem entschwundenen Hochstapler beginnt, steigert sich mehr und mehr zu wahren Verlust-Tragödien: angefangen vom entwürdigenden Unverlässlichwerden des alternden Körpers – über den verlorenen Glauben an eine Heilkraft der Kunst - bis hin zum allmählichen Aussterben des humanistisch gebildeten, vom Faschismus und der Befreiungsbewegung der 60er Jahre geprägten Nachkriegsintellektuellen. "Der Typus Büchermenschen, den wir repräsentieren, er wird verschwinden," erkennt Frederike da schließlich hellsichtig, um danach sofort den Jour Fixe als Ganzes aufzulösen.

    Das, was als harmloses Erzählexperiment Listmanns beginnt, entwickelt in Bovenschens neuem Buch also fatale Dynamik für die Figuren. Und endet in letzter Konsequenz – in Gestalt der Tagebuchschreiberin Celia – sogar im Freitod, die mit ihrem, bis zum letzten Atemzug dokumentierten Selbstmord die radikalste Geschichte von einem Verschwinden abliefert.

    Aus dem Erzählen über das Verschwinden wird für die Erzähler bei Bovenschen eine bittere Tatsache. Und "Verschwunden" ist damit eigentlich ein sehr trauriges und wütendes Buch, das vor allem den schleichenden Verlust eines sich noch dem ethischen Zweifel verpflichteten Intellektuellen-Typus beklagt. Man sollte den Groll der Autorin darüber nicht unterschätzen.

    Silvia Bovenschen: "Verschwunden". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, 167 Seiten. 17.90 Euro