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Geliebtes, verfluchtes Land

Schwärmer für das Land, in dem nach Goethes Mignon "die Zitronen blühn", sind an sich unbelehrbar. Ihre Italiensehnsucht hat erhabene Vorbilder, ist mit einem Trüffelvorrat an klassischen Zitaten gespickt und weist jeden Zweifel von sich. So beschaffen schien auch der Schweizer Schriftsteller Dieter Bachmann, einstmals Reporter des legendären "Tagesanzeiger"-Magazins und zehn Jahre lang Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Du".

Von Wilfried Schoeller | 02.06.2008
    Er ging nach Rom und arbeitete dort für einige Zeit als Direktor des Schweizer Kulturinstituts. Danach wollte er überhaupt nicht mehr weg: Er kaufte sich einen Hügel in Umbrien und baute inmitten seines riesigen, verwilderten Grundstücks ein Haus.

    Sein Buch "Die Vorzüge der Halbinsel" ist eine fortlaufende Aufzeichnung, was ihm im letzten Jahrzehnt an Beglückungen, aber auch an Widrigkeiten, an Verzauberung und Pein in Italien widerfahren ist - eine Liebeserklärung und ihr Dementi zugleich.

    Erinnerungen an frühere Zeiten schießen ein: als die italienischen Migranten mit Sack und Pack in den Norden zogen; ein Bogen wird geschlagen zu den Schiffbrüchigen, die heute von Afrikas Küste her den europäischen Süden überschwemmen. Diese "Suche nach Italien" ist Tagebuch und Denkstück, Beobachtungsbrevier und Reflexion eines zornigen Melancholikers, schließlich auch eine Reise durch Italienbilder einst und jetzt. Ein Tryptichon aus kleinen Texten, die sich einer Zentralperspektive eine Skala des Gefühlswechsels ausbreiten.

    Im ersten Teil vor allem sind die Prosastücke mit Strecken bezeichnet. An diesen Routen werden italienische Divergenzen und Bizarrerien, ihre Komik und ihre Unverständlichkeit eingesammelt. Bachmann erweist sich als ein passionierter Italiengänger mit angehobener Stimme und nervösem Unbehagen. Manches Unverständnis über Sprachsitten und Lebensbräuche in Italien verschiebt seine eigene Position: Bachmann, der viele Jahre im Tessin, dem italienischen Vorposten der Schweiz, gelebt hat, sieht sich plötzlich versetzt; es verschlägt ihn zu den Nordlichtern, wo Ordnungswörter wie politische Effizienz und Zuverlässigkeit des Staates bare Münze sind. Die italienische Wirrnis, das Chaos des Alltags, die handlungsarme Gestenkultur - das alles rückt ihn nach und nach in eine andere Position.

    Die Fährnisse, die sich ergeben, wenn man atavistisches Brauchtum ablehnt, machen den zweiten Teil des Buches aus. Bachmann erzählt von einer einzigen, traumatisch wirkenden Bedrohung. Die einheimischen Jäger, die zu bestimmten Zeiten alles niederknallen, was ihnen vor die Flinte kommt, egal ob Wildschwein, Hase oder Singvogel, betrachten den umbrischen Siedler als Eindringling in ihr Revier und zeigen es auch: brennende Waldstücke, durchtrennte Zäune, vergiftete Haushunde sind massive Zeichen. Die Botschaft wird nicht ausgesprochen, aber sie ist mit Händen zu greifen: Geh in dein Land zurück, lautet sie. Der lästige Ausländer rächt sich mit Breitseiten über die "Seelenblindheit", die "partielle Insuffizienz des moralischen Wahrnehmungsapparates" und die Mafia-Hörigkeit in Italien. "Wer ist hier Barbar" lautet eines der Kapitel. Geduldet wird er schließlich doch, aber nur, weil er nicht aufgibt. Der Feuilletonist wird dabei zum Ankläger. Der Hügel mit den weiten Aussichten bis nach Assissi ist ein von Enttäuschung überwuchertes Residuum.

    Im dritten, dem schwächeren Teil, häufen sich die politischen Nachrichten aus der Zeitung. Viele dieser Notate kreisen um die notorische Verspätung der Gesellschaft, um die Clownerien der italienischen Politiker, allen voran Berlusconis, um diese schwierige Halbinsel, die für europäische Anforderungen immun erscheint. In dieser Partie sind komische oder absurde Episoden selten. Etwa die von der Postkarte, die zwanzig Jahren nach Absendung ankommt und die an eine längst verblichene Tante gerichtet ist, aber korrekt an die richtige ehemalige Adresse geliefert wird. Des Chronisten Verstörung nimmt überhand, und der Reiz der Miniaturen schwindet in diesem dritten Teil ein wenig dahin.

    Die von keinem Zweifel angekränkelte Bewunderung gilt jedoch einem Italien auf Celluloid: Bachmann hat dem Buch seine vielstimmige Liebeserklärung für den Regisseur Federico Fellini eingeschrieben. Den realen Zustand, in dem er sich befindet, nennt er jedoch "Italienvergiftung" und fragt sich, woher wohl "dieser Hang und Drang in das geliebte, verfluchte Land" herrührt. Er studiert ein Land, das es nie gelernt hat, sich von außen zu sehen, das keine stabile politische Ordnung und keine zuverlässige Verwaltung zustande bringt, das in allen Sorten von Müll erstickt. Italien verwandelt seinen Enthusiasten am Ende gar in einen bissigen Leitartikler. Aber dennoch ergeben diese Notate einen vielstimmigen Essay aus den Farben der Hingerissenheit, des Zweifels, der Konfrontation, der Wut, des Behagens und einer nie ganz zu stillenden Zuneigung. Im Regal, wo die Reiseverführer stehen, gehört dieses Italienbuch mit seinen vielen Facetten an einen vorderen Platz.

    Dieter Bachmanns Italienbuch "Die Vorzüge der Halbinsel. Auf der Suche nach Italien",
    marebuchverlag