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Gelungenes Werkstück von Enthusiasten

Die Herausgabe der Werke I/II unter dem Namen "Von Aas bis Zylinder" im Verlag 2001 verfolgt die Absicht, den Universalgelehrten Hans Jürgen von der Wense einer größeren Leserschaft bekannt zu machen. Die bibliophile, auf 3200 numerierte Exemplare limitierte Edition kann nur als gelungenes Werkstück von Enthusiasten bezeichnet werden.

Von Bernd Mattheus | 06.09.2005
    Hans Jürgen von der Wense träumte von einer "Weltlautschrift", ferner von einem "All-Buch", das in drei Bänden Fragmente, Übertragungen und Lieder vereinen sollte. Von diesen Ambitionen blieben 19 Veröffentlichungen, meist in Zeitschriften, zu Lebzeiten und ein entsprechend üppiger Nachlass: die Forscher zählten gut 30.000 Manuskriptseiten, 315 Mappen mit Notaten, 40 Tagebücher, 258 annotierte Messtischblätter, außerdem Tausende von Fotografien.

    Denn Wense war nicht allein Komponist und Schriftsteller, sondern eine Art Polyhistor: autodidaktischer Übersetzer, Meteorologe, Ethnologe, Historiker, Geologe, Heimatforscher.
    Die vielfältigen Interessen des 1894 in Ostpreußen geborenen Exzentrikers spiegeln sich bereits in der Wahl der Studienfächer wider: Musikgeschichte, Maschinenbautechnik, Astronomie. Die Zerstreuung setzt sich fort in den wechselnden Wohnorten: von Rostock führt sein Weg über Berlin, Warnemünde, München, Dresden, Hellerau, Kassel, Braunschweig und Gießen, um schließlich in Göttingen einen letzten Wohnsitz zu finden.

    Dabei blieb er eigentlich heimatlos, begriff er sich doch als Bewohner des Himmelskörpers Erde. In der Rückschau sprach Wense selbst von der "Frivolität" seiner Biografie im Vergleich mit dem Zeitgeist, denn: "Ich habe auch immer ein PhantaSieleben geführt, alles Äußere Reale ist für mich schattenhaft und ganz außerhalb meiner Logik – selbst die Hitlerzeit über habe ich Tag für Tag nur an meine Idee gedacht, mein inneres Werk, mein So- und nur So-Sein."

    Dabei deutete sich in den Jahren 1919-1922 eine Karriere als atonaler Komponist an, den die Kritik der Zeit mit Bartók, Satie oder Schönberg verglichen hatte. Befreundet war dieser musikalische Futurist mit Eduard Erdmann und Ernst Křenek – gleichwohl gelingt ihm die Aufnahme in den Musikbetrieb nicht. Paradoxerweise kennen die einschlägigen Lexika ausschließlich den Komponisten Wense.

    Auch in den deutschen Metropolen hält ihn nichts, wo er unter anderem Kokoschka, Feininger, Däubler und Murnau begegnet. In seinem "Lebensbericht" heißt es dazu: "In vielleicht einzigartiger Zurückgezogenheit, aber auch Freiheit habe ich nun 35 Jahre lang für nichts als mein geistiges Schaffen gelebt; unfähig, ein bürgerliches Leben zu führen mit Beruf, Ehe und Sicherheiten wie auch das betont unbürgerliche eines Anarchisten oder Vaganten."

    Man möchte meinen, dass er sich das non serviam zur Lebensmaxime gemacht hat, neben dem Wahlspruch: "Sehen, nicht gesehen werden!" Spätestens seit 1930 frönt Wense einer weiteren Leidenschaft, dem Wandern. Er bringt es auf elf Stunden täglich und maximal siebzig Kilometer zu Fuß. Während er Westfalen, Niedersachen und Hessen durchquert, notiert, kartografiert und fotografiert er unentwegt. In den leidenschaftlichen Schilderungen seiner Exkursionen wird deutlich, dass ihm Wandern "Lassen des Lebens" und "Verherrlichung des Alls" zugleich bedeutet.

    Um zu sehen, was er in der Landschaft entdeckt, bedarf es eines besonderen Sensoriums, das hinausgeht über angelesene Kenntnisse zum Beispiel von geschichtsträchtigen Orten. In seiner Selbstdarstellung bringt er die Voraussetzung für diese "Optik" auf den Punkt, nämlich die Weigerung, das Kind in sich zu töten, erwachsen, vernünftig zu werden: "Mein Geheimwort", schreibt er 1963, "ist: die Lebenseinheit. Das habe ich mit 7 Jahren erfahren, seitdem habe ich mich nicht weiter entwickelt."

    In seiner Begeisterung bei Naturbeschreibungen, auch von Menschenbegegnungen, erinnert er zuweilen an Bettine von Arnim oder den späten Nietzsche. Die exotischeren Reisen: Afrika, China, Indien, Mexiko, Mongolei, Arabien, Brasilien – waren rein imaginäre, sie fanden in Bibliotheken und mit Hilfe von Wörterbüchern statt. Dies bezeugen seine Übersetzungen entlegener Märchen, Sprichwörter, Epen, Volkslieder wie auch Gesänge. Laotse und Heraklit zählen zu den namhaftesten Autoren im Reigen von Wenses Übertragungen.

    Wie herrlich nutzlos er sich doch verausgabte – und eben auch verzettelte. Der Vielbegabte zahlte allerdings keinen geringen Preis für seine Unabhängigkeit. Zwar fand Wense stets Wohltäter, die ihm das Überleben ermöglichten, aber er lebte praktisch als Besitzloser. In der Göttinger Zeit, das heißt ab 1941, dem letzten Drittel seines Lebens, war er darauf beschränkt, den Steinway in der Wohnung seiner Mutter beziehungsweise den Flügel in der Aula einer Schule zu benutzen, außerhalb der Unterrichtszeiten. Seine Hauptmahlzeit nahm er in der Volksküche ein, während der Siebzigjährige dann sich gerade noch ein Essen zu DM 2,20 in der Bahnhofsgaststätte leisten konnte.

    Wense pflegte einige exklusive, aber intensive Freundschaften zu Frauen, die ihn manchmal gleichzeitig materiell unterstützten. Besonders im Alter faszinierte ihn zunehmend der Umgang mit jungen Männern, deren geistigen und beruflichen Weg er zu fördern sich bemühte. Natürlich waren auch Wanderungen mit dem Mentor angesagt!

    In seinem letzten Lebensjahr, 1966, bekennt sich Wense nachdrücklich zu seinem Außenseitertum:

    "...ein extrem anti-intellektueller, rein geistiger, d.h. schöpferischer mensch, ein besessener, dem alles lebenswerte zuwider und gleichgültig ist, ohne bedürfnisse, ohne sogar sex, mit krankhaften anti-eigenschaften wie völlig mangelndem ehrgeiz, erwerbstrieb, eitelkeit usw. (...) Niemand lebt so lebendig und wirklich wie ich, aber ich bin nicht vorhanden."

    Die zweibändige Werkausgabe von A-Z bietet eine Auswahl von 862 Briefen, die akribisch kommentiert und von Faksimiles sowie Fotos begleitet werden. Die Titelfindung selbst geht auf einen Plan des Autors von 1956 zurück, alle Dichtungen, Essays und Dokumente zusammenzufassen in einem "unter Stichworten alphabetisch geordnetem Werk von Aas bis Zylinder."

    Auch die Epidot betitelten Fragmente, die Wense als seine "Lebens-Summe" bezeichnet, waren alphabetisch angeordnet. In beiden Fällen wird ein Ordnungsprinzip willkürlich angewandt und so ad absurdum geführt. Vergegenwärtigt man sich Wenses Mappensammlungen, die sein Arbeitszimmer wie eine Notarskanzlei wirken ließen, können wir freilich unterstellen, dass er auch in sich selbst mit der verhassten "kleinstbürgerlichen Regelwelt" zu kämpfen hatte.

    Der vorliegenden Briefesammlung war 1999 eine andere vorausgegangen, "Geschichte einer Jugend. Tagebücher und Briefe" überschrieben, erschienen bei Matthes & Seitz. Die Wiederentdeckung der Ausnahmegestalt Wense verdankt sich dem Nachlassverwalter Dieter Heim sowie der Initiative des Münchner, jetzt in Berlin ansässigen Verlags. Dieser kündigt die Fortsetzung seiner Wense-Edition an, und zwar mit dem Titel "Wanderjahre".
    Die Ausgabe der Werke I/II im Verlag 2001 verfolgt die Absicht, Wense einer größeren Leserschaft bekannt zu machen. Die bibliophile, auf 3200 numerierte Exemplare limitierte Edition kann nur als gelungenes Werkstück von Enthusiasten bezeichnet werden.