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Gen-Karte im Weißen Haus enthüllt

Selten ist die Bekanntgabe einer wissenschaftlichen Entdeckung mit so viel Aufwand inszeniert worden wie am 26. Juni 2000 in Washington. Damals wurde in Anwesenheit von Staatsoberhäuptern bekannt gegeben, dass das menschliche Erbgut fast vollständig entschlüsselt worden ist.

Von Martin Winkelheide | 26.06.2010
    "Als der Präsident, Francis und ich gemeinsam aus dem Foyer in den East Room des Weißen Hauses gingen, spielte eine Kapelle, und als wir eintraten, wurden wir mit stehenden Ovationen empfangen."

    So erinnert sich der US-amerikanische Genforscher Craig Venter an den 26. Juni 2000. Es war der Tag des Triumphes für den Rebellen der Wissenschaft.

    "Ich blickte mich um und stellte fest, wer alles im Publikum saß: mehrere Kabinettsmitglieder, Senatoren und Kongressabgeordnete - und alle, die in der Genforschung Rang und Namen hatten."

    Der Präsident der Vereinigten Staaten, Bill Clinton, trat ans Rednerpult.

    "Wir lernen heute die Sprache, in der Gott das Leben geschaffen hat."
    Vor knapp zwei Jahrhunderten habe schon einmal ein Forscher eine Karte präsentiert, die erste Landkarte der Vereinigten Staaten. Aber jetzt gehe es um eine noch wichtigere wissenschaftliche Errungenschaft - wichtiger noch als die erste Mondlandung. Clinton:

    "Dies hier ist die wundersamste Karte, die jemals in der Menschheitsgeschichte hergestellt worden ist. "

    Diese neue, wundersame Karte war die erste "Textversion" des menschlichen Erbgutes. Wissenschaftler hatten erstmals die Reihenfolge der drei Milliarden Bausteine des menschlichen Genoms zu 97 Prozent bestimmt. Der vorläufige Abschluss des wissenschaftlichen Mammutprojektes wurde nicht nur in Washington, sondern zeitgleich auch in London, Paris, Tokio und Berlin bekannt gegeben. Und euphorisch spekulierte man über die praktische Bedeutung, die das Ereignis für die Menschheit haben werde.

    "Mit einem Mal ist vorstellbar, dass unsere Kindes-Kinder den Begriff Krebs nur noch als Sternbild kennen."
    Der 26. Juni 2000 markierte auch das Ende eines erbittert geführten Wettkampfes zwischen öffentlich geförderter, staatlicher Forschung, dem "Human Genom Projekt", auf der einen Seite und Craig Venters Firma Celera auf der anderen.

    1990 hatten die Nationalen Gesundheitsinstitute NIH in den USA die Entschlüsselung des Genoms in Angriff genommen. Nach und nach stießen Institute aus Großbritannien, Frankreich, Japan, Deutschland und China hinzu.

    Craig Venter, ursprünglich an den NIH angestellt, hatte Ende der 90er-Jahre mit seiner Firma "Celera" das Ziel ausgegeben, das Erbgut des Menschen schneller zu entziffern als die weltweite Genom-Organisation HUGO - und billiger. Wozu Regierungen in den USA und Europa fünf Milliarden Dollar ausgegeben hatten, das wollte er mit weniger als 100 Millionen Dollar schaffen.

    Er führte einen neuen Stil ein, Biologie zu betreiben. Er sah sich selbst dabei als Henry Ford der Genforschung.

    "Auch bei Celera mussten wir eine Fließbandmentalität einführen und in dem gesamten Verfahren eine große Zahl kleiner Verbesserungen vornehmen, aber auch mit Strategieveränderungen am Ende sowohl den Zeitaufwand als auch die Kosten der Sequenzierung senken."

    Billiger, schneller, effizienter - Biologie im industriellen Maßstab. Der Preis für den gemeinsamen Auftritt mit Bill Clinton und Francis Collins, dem Chef der internationalen Human-Genom-Organisation, war hoch: Celera musste sich verpflichten, alle Genomdaten im Internet zu veröffentlichen.

    "Innerhalb der nächsten zehn Jahre wird es eine persönliche, vorbeugende Medizin geben für die meisten von uns in diesem Raum."

    Krebs ist nach wie vor eine bedrohliche Erkrankung; und Francis Collins Prognose ist nicht eingetreten. Craig Venter erkannte damals schon:

    "Wir wissen jetzt, dass Umweltfaktoren wahrscheinlich einen ebenso großen Anteil daran haben, was wir sind - wie unser genetischer Code."

    Es gibt mehr Fragen als Antworten. Von vielen Genen ist immer noch unbekannt, welche Aufgabe sie haben. Erst in Ansätzen lässt sich erklären, wie Gene zusammenwirken, welchen Einfluss genau der Lebensstil auf ihre Funktion hat. Heute ist klar: Um das menschliche Leben wirklich zu verstehen, reicht es bei Weitem nicht aus, nur die Reihenfolge der Bausteine im Erbgut zu kennen.