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Genom oder Poem?

Im Frühjahr, wenn die Säfte steigen und das Leben sprießt und knospt, überkommt auch viele Menschen die Natur. Das führt neun Monate danach zu einem gewissen winterlichen Anstieg der Geburtenrate. Und darin wiederum liegt eine wissenschaftliche Erklärung für das Weihnachtsfest. Warum aber ein so triebfernes Geschehen wie die Retortenzeugung ebenfalls immer zwischen Weihnachten und Karneval für Schlagzeilen sorgt, das hat die Wissenschaft noch nicht enträtselt.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 10.01.2006
    Es ist aber auffällig, dass um den Jahreswechsel immer mehr Klonbabys die Nachrichten bevölkern. Vor drei Jahren machten die so genannten Raelianer, eine franko-amerikanische Sekte, von der bis dahin niemand gehört hatte, die Weltöffentlichkeit mit der Meldung kirre, das erste künstlich erzeugte Kind sei just am zweiten Weihnachtstag geboren worden. Die Behauptung hatte ungefähr so viel Substanz wie die Forschungsergebnisse des südkoreanischen Gentechnik-Pioniers Hwang Woo Suk.

    Dessen gesamte Arbeit wurde jetzt vom Untersuchungsausschuss seiner Universität als Fälschung gebrandmarkt. Alles, womit der Mann berühmt geworden ist - Stammzell-Linien, Labordaten, Zeitschriftenveröffentlichungen - soll auf Manipulationen und Erfindungen beruhen. Angeekelt beugt sich die Fachwelt über ihr schwarzes Schaf und diskutiert wieder heftig über Erfolgsdruck, Selbstkontrolle und Publikationswahn.

    Dabei ist der Fall doch bei kulturphilosophischer Betrachtung beinahe unvermeidlich. Die ganze Genforschung ist aufgeladen mit metaphysischen Phantasmen; nicht von ungefähr hat sogar der Feuilletonherausgeber der FAZ schon mal Genom mit Poem verwechselt. Nie zuvor in der Geschichte wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts war das, was man erreichen wollte, bereits derart von Ängsten und Halluzinationen, Erwartungen und numinosen Gefühlen besetzt wie bei der Genforschung.

    Wer sich dieser Disziplin verschreibt, betritt kein offenes Gelände. Hier ist alles von ausformulierten Utopien und Angst erregenden Szenarien umstellt; da fällt es selbst dem nüchternsten Naturwissenschaftler mitunter schwer, dem Sog ins Mystisch-Mythische zu widerstehen. Überhaupt hat sich der Modus, in dem Wissenschaft fortschreitet, geändert: große Entdeckungen ergeben sich kaum noch zufällig, sondern sie werden erwartet und geplant. Dadurch entsteht natürlich ein gewisser Druck, der besondere Charakterfestigkeit erfordert. Doch jeder in der Branche weiß, dass das Frisieren von Ergebnissen gang und gäbe ist. Nach außen hin wird zwar immer von schwerwiegenden Einzelfällen geredet, die man Augen rollend bedauert, aber die Wahrheit der Forschungslabors lautet heutzutage: 'Cosi fan tutte’.

    Denn Leben herstellen: das ist natürlich etwas ganz anderes als zum Beispiel Darmbakterien klassifizieren. Es ist Science Fiction. Und warum sollten immer nur die Fiction-Schreiber einen Ausflug ins Gebiet der Science unternehmen? Jetzt kommen die Science-Leute und machen selber Fiction!