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Gene, Gesinnungen und Gesetzestexte

Ein Wort, dass in den letzten Tagen und Wochen immer häufiger als Faktum, und nicht in Anführungszeichen oder mit dem Vorsatz sogenannte verwendet wird: Integrationsverweigerer. Anmerkungen zu einem Unwort, das immer selbstverständlicher wird.

Von Arno Orzessek | 03.11.2010
    Seit Jahren Bewohner des berüchtigten Schlamassel-Distrikts Berlin-Neukölln, verfügen wir hoffentlich über die nötige Sensibilität, um dem Begriff 'Integrationsverweigerung' die innere Paranoia abzulauschen.

    Der Wahnsinn beginnt damit, dass das maliziöse Wort zu ungefähr 99 Prozent auf Muslime und zu 90 Prozent auf muslimische Türken gemünzt wird, was einer religiös beziehungsweise rassistisch motivierten Sippenhaft nahe kommt. Und das schmückt die säkular-liberale Gesellschaft - die ja Abweichung erlauben, Dissens aushalten, individuelle Freiheit gewähren will - nun wirklich nicht.

    Denn was ist eigentlich Integrationsverweigerung? Wenn ein prügelnder Pascha die Entjungferung seiner Tochter per Ehrenmord rächen lässt? Oder wenn ein einsames Computer-Kid per Amoklauf Mitschüler kalt macht? Wenn ein türkischer Halbstarker auf dem Hermannplatz Frauen belästigt? Oder wenn dasselbe russlanddeutsche Asoziale in Hellersdorf tun? Wenn die anatolische Großmutter kaum Deutsch spricht? Oder wenn auf dem Bio-Oriental-Markt am Landwehrkanal das internationale Studenten-Publikum auf Englisch als Lingua franca besteht, obwohl die bilingualen Verkäufer nur Deutsch und Türkisch können? Ist es - zuletzt - Integrationsverweigerung, wenn Halil Altintop für die türkische Nationalelf kickt oder wenn sich Franz Beckenbauer steuergünstig hinter die Grenze verzieht?

    Es gibt so viele Freaks, religiöse Fantasten, snobistische Geld-Eliten, kulturell anmaßende Großbürger und sonstige, teils hoch angesehene Sonderlinge, die nicht im ominösen Schwerkraftzentrum der Integration, der so genannten gesellschaftlichen Mitte stehen, dass die Parole nur lauten kann:

    Jeder, der rechtmäßig in Deutschland lebt und die Gesetze achtet, hat das Recht auf individuelle Integrationsverweigerung durch seinen Glauben oder Unglauben, seine politischen Ansichten, durch seine Lebensart, Freizeitbeschäftigung, Ernährung, Sexualität, wodurch auch immer. Allein die Sprachkompetenz ist eventuell von der Freizügigkeit auszunehmen.

    Für die obrigkeitsstaatliche Alternative steht unter anderen der bayerische Staatsminister des Inneren, Joachim Herrmann, CSU. Hermann, Mitglied im Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem, der sich nicht weltlichem, sondern kanonischem Recht unterwirft, hat erklärt, Integration müsse "notfalls auch erzwungen werden". Und weil ihm wohl selbst Zweifel kamen, ob sich Integration innerhalb des demokratischen Rechtsstaats tatsächlich erzwingen lässt, fügte er hinzu, dass man ansonsten halt ausweisen müsse.

    Auch das ein Wahnsinn, der Methode werden könnte, wenn man Integrationsverweigerung als Straftat festschriebe. Einem Hermann, der Überwachungsmaßnahmen liebt, aber unliebsame Demonstrationen hasst und deshalb das bayerische Versammlungsrecht verschärft hat, wäre es zuzutrauen. Eine bayerische Integrations-Polizei ließe sich sicher schnell bestallen.

    Es liegt uns fern, die Integrations-Problematik zu leugnen. Allerdings sind Hermann und Sarrazin nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, nämlich Integrationsverweigerer, die sich nicht in die liberalisierte Gesellschaft integrieren wollen. Wozu eben auch gehört, anzuerkennen, dass die einzig verbindliche Leitkultur hierzulande von Gesetzestexten bestimmt wird, keineswegs aber von Genen oder Gesinnungen.

    Indessen mögen sie weiter agitieren. Der liberale Historiker Timothy Garton Ash hat jüngst geschrieben: "In einer freien Gesellschaft müssen wir uns nicht einig sein. Es muss nur Einigkeit darüber herrschen, auf welche Weise wir uneins sein dürfen."