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Gene und Homosexualität
Das eine Schwulen- oder Lesben-Gen gibt es nicht

Forscher haben das Erbgut einer halben Million Menschen ausgewertet, um zu verstehen, wie sich Homosexualität auf genetischer Ebene darstellt. Die Studie zeigt, dass die Gene zwar Einfluss auf das sexuelle Verhalten haben, die Umgebung aber wichtiger ist.

Von Volkart Wildermuth | 30.08.2019
Ein schwules Paar blickt auf das Meer
"Wir haben gelernt, dass es da draußen eine deutlich größere Vielfalt gibt, das zeigt die genetische Analyse. Diese immer längeren Abkürzungen in der LGBTQIA+ Gemeinschaft, die gibt es wirklich, wir können das nachweisen", sagt der Forscher Ben Neale. (imago images / Westend61)
Gene und Sexualität – Stichworte, die Forscher und Öffentlichkeit motivieren. Da sorgen dann schon mal Studien mit 80 Teilnehmern für Schlagzeilen.
Andrea Ganna: "Die Ergebnisse ließen sich dann meist nicht bestätigen. Also haben wir ein internationales Team zusammenstellt und die Daten von einer halben Million Menschen gesammelt. Das sind hundertmal mehr, als bislang verfügbar waren."
Die Daten stammen aus der UK Biobank in Großbritannien und der amerikanischen Firma 23andMe. Wer so viele Daten sammeln will wie Andrea Ganna vom European Molecular Biology Laboratory in Helsinki, muss auf der anderen Seite Abstriche machen bei der genauen Beschreibung des Verhaltens, um das es geht. Gerade die Sexualität hat viele Ausprägungen. In dieser Studie wurde sie reduziert auf eine Frage: "Hatten Sie jemals Sex mit einer Person gleichen Geschlechts?"
Das Erbgut ist wichtig, die Umgebung ist wichtiger
Das schließt bekennende Homosexuelle ebenso ein, wie Menschen, die im Jugendalter einmal mit dem gleichen Geschlecht experimentiert haben. Dank dieser Vereinfachung konnten die Autoren aber klare Ergebnisse erzielen. Das erste lautet: genetische Unterschiede erklären etwa ein Drittel der Unterschiede in der sexuellen Orientierung. Das Erbgut ist wichtig, aber die Umgebung ist wichtiger. Wobei völlig unklar ist, worin diese Umweltfaktoren bestehen. Was den genetischen Anteil betrifft konnten die Forscher immerhin einige Stellen im Genom identifizieren.
Andrea Ganna: "Wir haben das gesamte Genom untersucht und fünf Varianten gefunden, die etwas damit zu tun haben, ob jemand schon mal mit einer gleichgeschlechtlichen Person Sex hatte. Diese Varianten sind in der Bevölkerung sehr verbreitet, aber sie haben nur einen kleinen Effekt. Gemeinsam erklären sie weniger als ein Prozent der Unterschiede im Sexualverhalten."
Tieferes Verständnis des Sexualverhaltens
Das sind also sicherlich keine Schwulen- oder Lesben-Gene. Es ist wie bei vielen anderen Verhaltensweisen auch: Der Einfluss der DNA verteilt sich offenbar auf hunderte, vielleicht tausende sehr kleine Effekte. Damit ist es kaum möglich, einen Gentest für Homosexualität zu konstruieren. Diese Botschaft war auch den Betroffenen selbst wichtig, die in vielen Ländern noch immer mit Diskriminierung kämpfen und mit denen die Forscher eng zusammengearbeitet haben. Für die Wissenschaft sind die kleinen Effekte aber durchaus interessant, sie können zum tieferen Verständnis des Sexualverhaltens führen, meint Andrea Genna.
"Eine Variante liegt neben mehreren Genen, die den Geruchssinn beeinflussen. Und der ist ja wichtig für die sexuelle Anziehung. Eine andere Variante hat etwas mit dem Haarausfall zu tun und damit mit den Sexualhormonen. Also hier könnte es eine Verbindung zwischen der Regulation der Sexualhormone und gleichgeschlechtlichem Sexualverhalten geben."
Interessant ist auch, dass sich die schwule und die lesbische Liebe auf der Ebene der Gene unterschiedlich darstellt. Das könnte mit den Hormonen zusammenhängen oder auch mit dem gesellschaftlichen Umfeld, das Frauen und Männer vor unterschiedlich behandelt.
Sexualität ist komplex
Überhaupt betonen Andrea Ganna und seine Kollegen, wie komplex die Sexualität ist. In einer weiteren Analyse haben sie nach genetischen Unterschieden zwischen bisexuellen und rein homosexuellen Personen gesucht. Dabei waren wieder ganz andere Varianten auffällig. Auf der genetischen Ebene zeigt das Sexualverhalten viele unterschiedliche Facetten. Eindimensionale psychologische Skalen wie etwa die von Alfred Charles Kinsey greifen deshalb zu kurz. Das ist für Ben Neale vom Broad Institute im amerikanischen Cambridge die wichtigste Erkenntnis aus der neuen Studie.
Ben Neale: "Wir haben gelernt, dass es da draußen eine deutlich größere Vielfalt gibt, das zeigt die genetische Analyse. Diese immer längeren Abkürzungen in der LGBTQIA+ Gemeinschaft, die gibt es wirklich, wir können das nachweisen."
Oder besser gesagt, erste Hinweise geben. Denn letztlich war selbst diese Riesenstudie noch zu klein und die Fragen an die Teilnehmer nicht spezifisch genug.
* Anmerkung der Redaktion: Die ursprüngliche Überschrift lautete "Ein Schwulen- oder Lesbengen gibt es nicht". Um jedes Missverständnis auszuschließen haben wir die Überschrift präzisiert.