Freitag, 19. April 2024

Archiv


Generation Bundesrepublik

Der Autor Wolfgang Schmidbauer hat den Versuch unternommen, ein Psychogramm der Bundesrepublik zu verfassen, indem er drei für die Geschichte des Landes prägenden Generationen unter die Lupe nimmt: Die Kriegsgeneration, die 68er und die Generation ihrer Kinder. Das Ergebnis der Untersuchung: eine kollektive Biographie unseres Landes - doch sind Generationen so klare Gruppen?

Von Hubert Maessen | 18.05.2009
    Dass ein ganzes Land auf die Couch gelegt wird, das ist nichts Besonderes. Die Psychoanalyse hat schon vor geraumer Zeit die Beschäftigung mit dem Individuum erweitert um die systemische Anwendung ihrer Analyse-Technik und Therapie-Ideen.

    Organisationen, Völker, Staaten, Epochen werden psychoanalysiert, und auch wenn es keine Heilung gibt, so ist doch der Erkenntnisgewinn nicht schlecht, oft sogar überraschend - also vergnüglich. Außerdem haben die Analytiker so ihr Geschäftsmodell ausgebaut und sich nicht nur neue Erkenntnisse verschafft, sondern auch für einen erweiterten Einnahmebegriff gesorgt. Ein auch in diesem Sinne tüchtiger Mann ist unser Autor Schmidbauer. Er ist geboren im Kriegsjahrgang 1941, ein seit langem umtriebiger aber nicht nur deshalb bekannter Psychologe. Von ihm stammt zum Beispiel der Begriff Helfersyndrom, der in die Allgemeinsprache, ja sogar in den Jargon übergegangen ist. Schmidbauer unterhält eine private Praxis, analysiert und berät nicht nur Individuen, sondern eben auch Organisationen.

    Und man kann ihn in seiner publizistischen Tätigkeit ganz ohne Hintergedanken als Vielschreiber bezeichnen, muss es sogar: Über 200 Publikationen seit 1970 listet die Deutsche Nationalbibliothek auf; Fachbücher auf dem ganz weiten Feld der Psychologie, sogar Romane und Erzählungen. In diesem Jahr 2009 sind schon drei Bücher erschienen, eine Neuausgabe und zwei neue Titel, einer davon ist die Geschichte der Bundesrepublik als die Geschichte dreier Generationen. Diese Sicht lag sozusagen in der Luft, Schmidbauer erwähnt Dutzende von Generation-Varianten von "Generation Golf" über "Generation Praktikum" bis "Generation Angst". Nun sind das ebenso modische wie lässige Bezeichnungen, und sie verstärken die Frage, ob die Betrachtung von grob definierten Generationen und ihrer Interaktion dem komplexen politischen Gegenstand angemessen sein kann. Schmidbauer beantwortet diese Frage vorwärtsverteidigend:

    Ich bin mir der Problematik des Generationenbegriffs bewusst, aber ich habe keinen besseren gefunden, um meine Beobachtungen zusammenzufassen. Der Weg meiner Überlegungen führt, plakativ gesagt, von den traumatisierten Flüchtlingen einer ersten Generation der Bundesrepublik zur Hippie-Kommune der zweiten Generation, vom Wirtschaftswunder zur Roten Zelle. Er führt aus dem antiautoritären Kinderladen zurück (oder vorwärts) zum leistungsorientierten, hoch angepassten, elternabhängigen und angstgeplagten Erwachsenen einer dritten Generation, die sich nacheinander durch den Konsum (Generation Golf) oder durch Rätsel (Generation X) und Ratlosigkeit definiert.
    Was daran besticht, nämlich die suggerierte Konsequenz der Entwicklung, des quasi natürlichen Ablaufs, das entpuppt sich über die 250 Seiten des Werks als nun doch unzureichende Methode mit einem sehr begrenzten Erkenntnisgewinn. Zwar will einem das Konzept, die Geschichte der bundesrepublikanischen Generationen, prima vista einleuchten, aber es ist zu schön um wahr zu sein; die Idee verläppert sich und kommt einem mehr und mehr schematisch und beschränkt vor, ungeeignet, die komplexe Wirklichkeit der Geschichte von 60 Jahren zu fassen, darzustellen und zu deuten.

    Denn: Kann man die Bundesrepublik wirklich in drei Generationen aufteilen und daraus ihre Bewegung und Geschichte ableiten? - Eine erste Generation, die durch Niederlage, Gefangenschaft und Vertreibung traumatisierte Generation der Kriegsteilnehmer, die ihren Kindern nichts sagen wollte und auch nicht konnte?

    Eine zweite Generation, die 68er als die überschätzte Generation, Schmidbauer nennt sie "thymotisch" nach dem mutvollen Element bei Platon. Sie versuchte, durch Pointierung welterlösender Werte, durch Idealisierung der eigenen Vorstellung von Liebe und Erziehung die Wertverluste, die innere Leere und die Anpassungsforderungen ihrer traumatisierten Elterngeneration auszugleichen?

    Schließlich eine dritte Generation, die phobischen Kinder der 68er, die hohen und oft widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt worden seien. Diesen Kindern erschwerten Ängste und Entwertungsgefühle die Ablösung von den Eltern, gefährdeten ihr Autonomieerleben und Selbstgefühl, verschärft durch wachsenden wirtschaftlichen Druck seit den 90er-Jahren. Doch, da nickt man immer wieder, ja, da kann man einiges nachvollziehen. Aber das ist ein Trick des Autors. Er hat seine Generationen so konstruiert, dass sich Folgerichtigkeit darstellt. Aber sind das wirklich Etappen von jeweils 20 Jahren? Sind die Generationen so einfach klare Gruppen? Was ist mit den sozialen Schichten, mit der ökonomischen Entwicklung? Was war denn mit den Halbstarken Ende der 50er-Jahre? Was mit der intellektuellen Avantgarde der 50er - war das keine Generation? Und wie war das denn alles jenseits der Grenzen? Finden wir die Generationen auch in Berkeley und Paris? Wie wenig Schmidbauers Ansatz trägt und auch in die Zukunft trägt, das zeigen Bemerkungen, mit denen er zum Schluss im doppelten Sinne kommt. Zum Beispiel:

    In Zukunft werden wir den Mut, eine neue Gesellschaft, eine andere Kultur zu denken, ebenso benötigen wie die Sorgfalt im Umgang mit begrenzten Ressourcen und mit den drohenden Verteilungskämpfen. Es geht also darum, den mittleren Weg zwischen den beiden Polen zu finden, die mit dem Gegensatzpaar thymotisch und phobisch beschrieben wurden. Die Frage scheint offen, ob Aufklärung und ökologische Vernunft eine global denkende Menschheit zu einem Verzicht auf einen bis zum Gesetzesbruch und der Preisgabe der Zivilgesellschaft gesteigerten Egoismus von Nationen bewegen können.
    Mut, eine neue Gesellschaft, eine andere Kultur, sowohl als auch, der mittlere Weg, es scheint, die offene Frage - das ist ein trauriges Phrasenflüstern, das jeder Wald- und Wiesenpolitiker genauso gut beherrscht, dafür braucht man keine drei Generationen. Es ergibt sich aus Schmidbauers Ansatz keine weitertragende Erkenntnis. Das erkennbar aus vielen Versatzstücken zusammengesetzte Buch, bietet in der Unübersichtlichkeit manches Interessante, aber insgesamt dann doch zu wenig. Es ist für das Eventjahr 2009 produziert und muss das nicht unbedingt überstehen.

    Wolfgang Schmidbauer. Ein Land - Drei Generationen. Ein Psychogramm der Bundesrepublik. Erschienen ist das Buch bei Herder. Es hat 259 Seiten und kostet 19 Euro 95.