Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Genetik
XY – gelöst: Wie Nettie Stevens die Geschlechter entdeckte

Was macht den Mann zum Mann? Und die Frau zur Frau? Die US-Forscherin Nettie Stevens hat das Rätsel gelöst: Sie erkannte, dass X- und Y-Chromosomen über das Geschlecht eines Lebewesens entscheiden. Ihr Name ist dennoch nur Fachleuten ein Begriff: Den Ruhm für die Entdeckung – inklusive Nobelpreis – bekam ein anderer: einer mit Y-Chromosom.

07.07.2016
    Ein X-Chromosom
    Ein X-Chromosom (imago /Science Photo Library)
    Man kann Nettie Maria Stevens guten Gewissens eine Pionierin nennen. Heute vor 155 Jahren in Cavendish, Vermont, geboren, lernte und arbeitete sie zu einer Zeit, als Bildung und wissenschaftliche Forschung für Frauen keineswegs selbstverständlich waren. Sie und ihre Schwester Emma Julia – die beiden überlebenden von vier Geschwistern - hatten Glück: Der Vater erwirtschaftete als Zimmermann genügend Geld, dass er beide zur Schule schicken konnte. Schon dort fiel Nettie als gute Schülerin auf. Um sich das Biologie-Studium in Stanford zu finanzieren, arbeitete sie zunächst als Lehrerin – die Ausbildung dafür absolvierte sie in zwei statt der vorgesehenen vier Jahre. Die Zytologie, also die Zellbiologie, wurde ihr Spezialgebiet, das Mikroskop eines ihrer wichtigsten Arbeitsgeräte.
    Drosophila als Schlüssel zum Erfolg
    Die Station am Bryn Mawr College in Pennsylvania, wo sie ihren Doktortitel erhielt, sollte eine der wichtigsten in ihrem kurzen Leben werden. Die Namen der Leiter der biologischen Fakultät, Edmund Beecher Wilson und Thomas Hunt Morgan, finden sich heute in jedem Fachbuch zur Genetik. Wilson beschrieb – unabhängig von Stevens - die chromosomengebundene Vererbung des Geschlechts. Morgan klärte mit seinen Kreuzungsversuchen an der Taufliege Drosophila melanogaster die grundlegende Struktur der Chromosomen auf. Möglich wurde ihre Arbeit zu großen Teilen durch die Erkenntnisse Nettie Stevens´.
    Die Biologin profitierte nicht zuletzt von einer klugen Wahl ihrer Forschungsorganismen: Mehlwürmer und Taufliegen. Insbesondere bei letzteren lassen sich die besonders gut mit dem Lichtmikroskop untersuchen. Wenn man sie einfärbte, konnte man die einzelnen Chromosomen bei der Zellteilung erkennen. Dabei fiel ihr auf, dass weibliche Tiere zwei große Geschlechtschromosomen aufweisen – die X-Chromosomen, wie wir heute wissen. Männliche Fliegen dagegen besaßen ein X-Chromosom und ein weiteres, kleineres: das Y-Chromosom, auf dem vor allem die typisch männlichen Merkmale festgelegt sind.
    Zwei Forscher – eine Erkenntnis
    Wilson, der nur Spermien untersuchte, blieb dies in seinen eigenen Experimenten verborgen. Dennoch veröffentliche er 1905 eine Arbeit, in der er die These einer chromosomengesteuerten Geschlechtsbestimmung vertrat. Auch Nettie Stevens – mittlerweile promoviert und nach Auslandsstipendien am Carnegie Institute tätig - veröffentlichte ihre Studien, in denen sie zu dem Ergebnis kam, dass die Geschlechtsbestimmung Sache der Chromosomen ist. Weil beide unabhängig voneinander zu diesem Ergebnis kamen, werden sowohl Stevens als auch Wilson als Entdecker dieses Zusammenhangs genannt.
    Früher Tod – bleibende Bedeutung
    Um ihre Studien ohne Lehrtätigkeit fortsetzen zu können, sollte am Bryn Mawr College eine solche Position für Stevens geschaffen werden. Doch bevor es dazu kommen konnte, starb die Forscherin im Alter von nur 50 Jahren an Brustkrebs. In seinem Nachruf in der renommierten Fachzeitschrift Cell würdigt Thomas Hunt Morgan, Nachfolger Wilsons am Bryn Mawr, Stevens´ Forschung. Ihre Entdeckung markiere "den Wendepunkt in der Geschichte der Theorie der Geschlechterdeterminierung".
    Morgan selbst profitierte davon: Seine Experimente, die ihm 1933 schließlich den Nobelpreis für Medizin einbrachten, führte er an Drosophila durch – dem Organismus, den Stevens als bevorzugtes Forschungsobjekt in sein Labor gebracht hatte. Morgan gelang es, nachzuweisen, dass die Gene nacheinander auf den Chromosomen angeordnet sind und ermittelte ihre Reihenfolge und Abstände zueinander – aber das ist eine andere Geschichte.
    (kb/fwa)