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Genom-Medizin für Frühchen

Medizin. - Die Entschlüsselung des kompletten Genoms wandert langsam von der Grundlagenforschung in die praktische Medizin. Die Zeitschrift "Science Translational Medicine" berichtet von einer Studie vom Children’s Mercy Hospital in Kansas City in den USA. Dort haben die Forscher einen Geschwindigkeitsrekord im Sequenzieren aufgestellt, um Frühchen auf der Intensivstation zu einer schnellen Diagnose zu verhelfen.

Von Volkart Wildermuth | 05.10.2012
    Eine Neugeborenen Intensivstation. Die winzigen Patienten liegen in den Wärmeboxen aus Plexiglas. Viele benötigen einfach etwas Zeit, um nachzureifen. Andere leiden an schweren medizinischen Problemen, unter Atemnot, Krampfanfällen oder Hirnschädigungen. Viele dieser Krankheiten haben genetische Ursachen, doch das wird oft erst im Nachhinein erkannt.

    "Die Ärzte suchen verzweifelt nach der Diagnose für diese sehr kranken Babys. Es muss vor allem schnell gehen. Bis das Ergebnis eines normalen Gentests vorliegt, ist das Kind entweder entlassen oder verstorben. Zum ersten Mal haben wir können wir dieses Problem angehen und Informationen aus dem Genom so schnell liefern, dass sie noch relevant für die Behandlung der kranken Babys sind."

    Stephen Kingsmore leitet das Zentrum für Kinder-Genommedizin am Children‘s Mercy Hospital in Kansas City. Dort wird nicht ein Gen nach dem anderen untersucht. Mit modernster Technik lässt sich die komplette Erbinformation eines Patienten gleichzeitig durchbuchstabieren. Das geht schnell, aber noch nicht schnell genug für den Einsatz in der Neugeborenen Intensivstation. Deshalb hat der amerikanische Arzt sich an einen britischen Hersteller von Sequenzierautomaten gewandt. Gemeinsam hat das Team einen neuen Rekord für die Genomanalyse aufgestellt.

    "Wir brauchen 50 Stunden von der Blutprobe des kranken Babys bis zu unserem Bericht für den Arzt. Inzwischen haben wir den Prozess weiter verfeinert. Wir können es in 40 Stunden schaffen, in weniger als zwei Tagen."

    Zumindest theoretisch. Bislang steht der Sequenzierautomat noch in England. Also müssen erst die Blutproben und dann die Festplatten mit den Daten per Kurier über den Atlantik geschickt werden. Noch diesen Monat wird aber auch das Children’s Mercy Hospital einen Sequenzierer der neuesten Generation erhalten. Es kommt aber nicht allein auf moderne Technik an. Genauso wichtig ist eine clevere Datenauswertung. Die Sequenzierung allein liefert nämlich keine Diagnose sondern nur eine Liste von drei bis vier Millionen Abweichungen zur menschlichen Standardsequenz. Die Kunst ist hier die eine Variante zu finden, die tatsächlich die Krankheit auslöst. Das Team um Stephen Kingsmore hat dazu ein spezielles Computerprogramm entwickelt. Es nutzt große Datenbanken um unwichtige Varianten auszusondern und ordnet die die übrig gebliebenen Abweichungen möglichen Symptomen zu. Nur wenn die zu den Problemen des Babys passen, werden sie angezeigt. Zufallsbefunde, etwa eine erbliche Neigung für Krebs oder Alzheimer erfahren weder Ärzte noch Patienten, es geht allein um die akute Krankheit des Babys. Kingsmore:

    "Wir haben das Genom von 17 Personen analysiert, von den Babys und auch von den Eltern. Insgesamt waren es acht Familien. Bei der Hälfte konnten wir eine bekannte Erbkrankheit diagnostizieren. Bei zwei Fällen haben wir einen neuen Gendefekt gefunden, der das Krankheitsbild erklären könnte. Und in zwei Fällen haben wir nichts gefunden."

    Leider gab es in keinem der Fälle eine wirksame Therapie. Trotzdem ist die Diagnose damit nicht wertlos, denn sie schafft Klarheit. Dem Baby bleiben sinnlose Untersuchungen erspart. Die Eltern können besser planen und vielleicht besondere Unterstützung für ihr Kind organisieren. Und wenn die Krankheit unweigerlich zum Tode führt, können sich Mutter und Vater mit dem kommenden Tod des Kindes auseinandersetzen, trauern. Die Diagnose eines Gendefekts hilft auch, das Risiko dieser Krankheit bei künftigen Kindern abzuschätzen. Aber natürlich wünscht sich Stephen Kingsmore, dass aus künftigen Genomuntersuchungen auch klare Therapieempfehlungen folgen. Dass das grundsätzlich möglich ist, zeigt die Erfahrung mit 75 älteren Kindern.

    "Zum Beispiel war da eine Familie mit zwei Jungen, die unter einer sehr schweren Entzündung des Darms litten. Wir konnten den Eltern sagen, dass da nur noch eine Knochenmarktransplantation helfen kann und das überlegen sie jetzt. Wir hatten mehrere Fälle, bei denen die Genomanalyse direkt zu neuen Therapiestrategien führte."

    Das soll am Children’s Mercy Hospital jetzt auch auf der Neugeborenen Intensivstation möglich werden. Stephen Kingsmore ist sich sicher, die Genomauswertung wird bald auch in anderen Kliniken zum Alltag gehören. Nicht als bloß neugieriger Blick in die genetische Kristallkugel, sondern als die ganz gezielte Suche nach einer Diagnose für schwerster Krankheiten.