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Genscher fordert Schuldenbremsen in allen Staaten Europas

Auslöser für die Finanzkrise sei gewesen, dass man die Regeln der Gemeinschaftswährung sträflich missachtet habe, sagt der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Jeder müsse erkennen, dass die Währungsunion auch eine Wirtschafts- und Finanzunion sei und eine gemeinsame Politik der Euro-Staaten erfordere - sonst drohe ein Ende des Einigungsprozesses.

Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit Bettina Klein | 06.09.2011
    Bettina Klein: Am Telefon begrüße ich Hans-Dietrich Genscher, früherer Bundesaußenminister und Ehrenvorsitzender seiner Partei, der FDP. Guten Morgen, Herr Genscher.

    Hans-Dietrich Genscher: Guten Morgen, Frau Klein.

    Klein: Wenn Sie in diesen Tagen die Nachrichten hören, die Presseschau verfolgen, die Zeitungen lesen: Wie schwer ums Herz ist Ihnen, wie sehr fürchten Sie um Europa?

    Genscher: Es besteht insgesamt Anlass, sich Sorgen zu machen, und zwar wegen des großen Vertrauensverlustes, der eingetreten ist durch Finanzkrise, auch durch Zweifel an der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Aber zu allererst ist der Vertrauensverlust entstanden, weil man die Regeln, die für die Gemeinschaftswährung vorgesehen waren, sträflich missachtet hat: durch Aufweichung der Stabilitätskriterien, durch das Versäumnis, den Euro und seine Voraussetzungen weiter zu entwickeln. Und deshalb ist das Erste, was jetzt notwendig ist, Vertrauen schaffen, und Vertrauen kann man nur schaffen, wenn man die Dinge, die man sich vorgenommen hat, auch durchsetzt. Das bedeutet, den Stabilitätspakt einzuhalten in allen seinen Teilen, mit allen Regeln, über die man sich verständigt hat, ihn gleichzeitig zu verstärken, das ist der nächste Schritt, nämlich Schuldenbremsen in allen Staaten Europas einzuführen, wie das bei uns längst der Fall gewesen ist. Das war auch nicht einfach, das durchzusetzen. Und man muss erkennen, dass eine Währungsunion auch eine Wirtschafts- und Finanzunion sein muss. Das heißt, dass die in Aussicht genommene Zusammenführung der Wirtschafts- und Finanzpolitiken der Mitgliedsstaaten, der Euro-Staaten zu allererst unbedingt und entschlossen vorangetrieben werden muss. Insofern ist der Appell, den die Bundeskanzlerin und der französische Präsident unlängst erhoben haben, absolut richtig. Sie sind damit einem Vorschlag gefolgt, den der Präsident der Europäischen Zentralbank Trichet vor einigen Wochen in Aachen gemacht hat, als er den Karlspreis erhielt. Also vorangehen mit Europa und die Ziele durchsetzen, die man sich vorgenommen hat.

    Klein: Herr Genscher, eine Vertrauenskrise ist natürlich nicht so schnell zu lösen, Vertrauen ist nicht von heute auf morgen herzustellen. Und was Sie beschrieben haben, zum Beispiel die Verankerung von Schuldenbremsen in nationalen Verfassungen, dafür gibt es noch nicht einmal Mehrheiten im Augenblick. Also worauf setzen Sie im Augenblick, dass tatsächlich ein Vertrauen wieder hergestellt wird und auch bei den Bürgern wieder hergestellt wird, die im Augenblick die Sorge haben, dass sie die Schulden anderer Staaten bezahlen sollen, denn so ist es ja nun halt, der Glaube daran?

    Genscher: Europa ist eine Solidargemeinschaft und von Europa haben in der Vergangenheit alle profitiert, nur in unterschiedlicher Weise. Deutschland zum Beispiel davon, dass es nicht mehr im Rahmen der Europäischen Union mit Zollhindernissen für seinen Export rechnen musste, dass es nicht mehr durch Abwertung in seinem Export behindert wurde. Das ist einer der großen und entscheidenden Gründe für die wirtschaftlichen Erfolge unseres Landes. Anderen ist in anderer Weise geholfen worden. Aber das Entscheidende ist, dass man durchsetzt, was man sich vorgenommen hat. Wer daran jetzt rüttelt, der wird aus der Vertrauenskrise mehr als eine Krise machen.

    Klein: Aber es gibt ja durchaus auch auf politischer Ebene und auch aus Ihrer Partei – wir haben heute Morgen die Meldung gehört von Herrn Solms, der einer von jenen ist, die heute Morgen auch noch mal sagen, wir müssen möglicherweise über einen Ausschluss Griechenlands nachdenken, wenn das Land nicht zurande kommt mit seinen Schulden. Also das ist ja, wenn ich Sie richtig verstehe, nicht der richtige Weg, auf diese Weise Vertrauen herzustellen, wenn man das Gesamtprojekt des augenblicklich bestehenden Euros infrage stellt.

    Genscher: Zunächst einmal muss jeder die Frage beantworten, will er in einer krisenhaften Situation Stillstand in der europäischen Politik, oder will er mehr Europa schaffen. Das ist das, was ich verlange, nämlich umzusetzen, was man vereinbart hat und was nicht umgesetzt worden ist - ich habe es eben erwähnt -, und zusätzlich Maßnahmen ergreifen, damit sich Verschuldungskrisen, wie wir sie derzeit erleben – es ist ja eine Verschuldungskrise und nicht eine Euro-Krise; die Schulden wären ja nicht weg, wenn am Euro herumgebastelt wird. Nein, es geht darum, jetzt das umzusetzen, was man sich vorgenommen hat, und Europa weiter zu entwickeln. Wer stehen bleibt in einer solchen wirklich historischen Phase der Entwicklung, der geht in Wahrheit rückwärts, und was das für Europa in einer völlig neuen Weltordnung bedeuten würde, daran hat ja in dieser Form niemand geglaubt und hat es auch nicht voraussehen können, als die Europäische Gemeinschaft gegründet wurde. Damals wollte man eine Antwort auf die Geschichte geben mit ihren europäischen Bruderkriegen. Heute wissen wir, Europa ist deshalb so gut vorbereitet auf eine neue Weltordnung, weil wir unsere Kräfte gebündelt haben. Das darf nicht rückgängig gemacht werden durch eine europäische Entsolidarisierung.

    Klein: Halten Sie es dann für eine im Augenblick gebotene Idee, das was die Kanzlerin zusammen mit dem französischen Präsidenten Sarkozy ja offenbar anstrebt, wieder den Gedanken dieses Kerneuropas aufzugreifen? Das heißt, einige Staaten gehen stärker voran, im Gespräch ist die sogenannte Wirtschaftsregierung für die Euro-Staaten, die in einem schnelleren Tempo möglicherweise eine europäische Einigung vorantreiben als der Rest. Ist das eine angemessene Antwort auf die Situation heute?

    Genscher: Ich glaube, der Kern dessen, wenn wir schon das Wort Kern verwenden wollen, was die Bundeskanzlerin und der Präsident Frankreichs wollen, ist, dass wir in der Wirtschafts- und Finanzpolitik endlich zu der notwendigen Zusammenarbeit kommen, die wir für eine gemeinsame Währung brauchen. Das ist der Kern. Und Sie haben das Wort Wirtschaftsregierung dafür verwendet, das ist ein Begriff, über den sich streiten lässt. Im Kern geht es darum, dass wir die Wirtschafts- und Finanzpolitik auf das Engste und immer weiter zusammenführen. Das bedeutet auch Abgabe von Zuständigkeiten an die europäischen Institutionen. Darum muss heute gerungen werden, und ich habe nicht den Eindruck, dass es hier darum ging, Länder auszuschließen, sondern dass es in Wahrheit darum geht, dass Frankreich und Deutschland ihre entscheidende Rolle für die Fortentwicklung Europas - und das heißt in diesem Moment für die Stabilitätsunion Europa - auch wirklich wahrnehmen wollen.

    Klein: Es gibt Argumente auf ganz verschiedenen Ebenen gegen ein schnelleres Zusammengehen und gegen ein Abgeben von nationalen Souveränitätsrechten. Die kleineren Staaten sorgen sich, Parlamente sorgen sich um ihre Mitbestimmungsrechte, ich könnte mehrere Beispiele aufzählen. Haben Sie den Eindruck, dass die politisch Handelnden im Augenblick, vor allem in Deutschland, die Regierungsparteien, genügend tun, um da voranzugehen und die Bürger und diejenigen, die das kritisch sehen, zu überzeugen?

    Genscher: Die Regierungsparteien in Deutschland – ich will mal bei uns anfangen – haben jetzt Gelegenheit, bei der Abstimmung (und das muss jeder einzelne Abgeordnete sich vor Augen führen, wenn er seine Stimme über das, was jetzt zur Entscheidung steht, abgibt), dass sie erkennen, Europa jetzt anzuhalten, Europa nicht weiter vorangehen zu lassen, das wäre das Ende nicht nur der Währungsunion, sondern des europäischen Einigungsprozesses. Und da muss ich sagen, nach allem, was in der Vergangenheit für Europa erreicht worden ist, es hat sich als unglaublich handlungsfähig erwiesen durch kraftvolle Politik. Bedenken Sie einmal, am Ende des Kalten Krieges war es Europa, das sich zusammenfand durch die Erweiterung der Europäischen Union. Das hat den Staaten östlich von uns die Chance gegeben, ihre Demokratien zu festigen. Ich lebe lieber in der Nachbarschaft und in der Gemeinschaft mit Demokratien als als Randstaat und Frontstaat eines Kalten Krieges. Das hat uns ermöglicht, auch die Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen mit der enormen Stabilität unseres Euro, von der ja gelegentlich in einer Weise geredet wird, als sei es eine weiche Währung. Er hat sich als stabile Währung erwiesen. Darum geht es heute, das zu festigen und diesen Weg entschlossen fortzugehen. Nur dann werden wir es schaffen.

    Klein: Herr Genscher, ich würde Sie gerne noch fragen: War es möglicherweise einfacher, den Glauben an Europa zu stärken und überhaupt zu entwickeln, zum Beispiel Anfang der 90er-Jahre, Sie haben es erwähnt: Der Kalte Krieg war gerade zu Ende, die Euphorie über den Fall des Eisernen Vorhangs noch vorhanden. War es damals einfacher, die Leute für das Europaprojekt zu begeistern?

    Genscher: Ich glaube, man kann die Leute dann fürs Europaprojekt begeistern, wenn man zu dem steht, was man sich vorgenommen hat, und das heißt, die Stabilitätsunion Europa zu schaffen und seine Verantwortung, die Verantwortung Europas auch für die Stabilität in der Welt zu erkennen. Es geht nämlich heute darum, dass wir in einer immer enger zusammenwachsenden Welt nicht nur eine Nabelschau in Europa betreiben, sondern erkennen, dass in einer Weltordnung, die überall als gerecht empfunden werden kann, auch die Zukunftschancen künftiger Generationen aus Europa gewahrt sind. So gesehen haben wir eine Verantwortung für die Entwicklung unserer Europäischen Union im Inneren und gleichzeitig einen Beitrag zu leisten für eine neue und gerechte stabile Weltordnung, und das möchte ich gerne sehen, mit den Vereinigten Staaten zusammen. Diese beiden großen, ja nicht nur befreundeten, sondern verwandten Regionen auf beiden Seiten des Atlantiks tragen eine ganz neue gemeinsame Verantwortung, und dem müssen wir uns heute gerecht zeigen, wie wir auch andere Krisen in der Vergangenheit durch Weitsicht und Mut, Neues zu beginnen und einen Weg entschlossen fortzuschreiten, unter Beweis gestellt haben.

    Klein: Der klare Appell vom ehemaligen Außenminister und Ehrenvorsitzenden seiner Partei, der FDP, Hans-Dietrich Genscher. Herr Genscher, ich bedanke mich für dieses Gespräch heute Morgen.

    Genscher: Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.