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Gentrifizierung
Die Stadt zurückerobern

"Das Recht auf Stadt" ist inzwischen zu einem Kampfruf geworden. Protestgruppen auf der ganzen Welt tragen dieses Motto inzwischen im Namen. Urheber dieser Idee ist der französische Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre, der 1968 ein gleichnamiges Buch veröffentlichte. Jetzt liegt es erstmals auf Deutsch vor.

Von Monika Dittrich | 04.07.2016
    Demo gegen hohe Mietpreise in der Innenstadt in Berlin
    Demo gegen hohe Mietpreise in der Innenstadt in Berlin (imago/stock&people/Christian Mang)
    Lefebvres Buch gehört in Deutschland vermutlich zu denjenigen Klassikern, die besonders häufig zitiert und erwähnt werden, ohne tatsächlich gelesen worden zu sein. Das liegt zum einen daran, dass es bisher keine deutsche Übersetzung gab. Es könnte aber auch an der eigentümlichen Sprache liegen, die typisch ist für die marxistischen Intellektuellen der 60er-Jahre. Auch die deutsche Fassung ist nicht gerade ein Lesevergnügen, angesichts solcher Sätze:
    "Auf den reformistischen Kontinuismus antwortet die These des Diskontinuismus und des radikalen revolutionären Voluntarismus: Eine Zäsur, ein Bruch sind nötig, damit der gesellschaftliche Charakter der produktiven Arbeit die mit dem Privateigentum dieser Produktionsmittel verbundenen Produktionsverhältnisse abschafft."
    Doch es lohnt sich, die Schachtelsätze zu entwirren. Lefebvre schildert, wie die Industrialisierung die Städte veränderte – die nun zu kapitalistischen Zentren wurden. Die Konsequenzen sind bekannt: Mieten steigen, öffentliche Flächen verschwinden, der Konsum wird zur "Ideologie des Glücks", wie Lefebvre schreibt. Städte waren also nicht mehr die brodelnden Mischkessel, wo Menschen unterschiedlichster Milieus miteinander und nebeneinander leben und arbeiten. Im Gegenteil: Das Proletariat wurde aus den Zentren verdrängt, die Ärmsten mussten an die Ränder ziehen, es entstanden Gettos, zum Beispiel die französischen Banlieues.
    Die Entstehung der Banlieues
    "Mit der 'Banlieuisierung' kommt ein Prozess in Gang, der die Stadt dezentriert. Hinausgedrängt aus der Stadt, verliert das Proletariat schließlich ganz den Sinn für das Werk. Hinausgedrängt aus den Produktionsstätten und von einem Wohngebiet aus den vereinzelten Unternehmen zur Verfügung stehend, lässt das Proletariat sein Bewusstsein für schöpferische Fähigkeiten verkümmern. Das urbane Bewusstsein verschwindet. (...) Das urbane Soziale wird durch das industrielle Ökonomische negiert."
    Diese Analyse ist stark. Denn sie entspricht dem, was wir derzeit erleben. Lefebvre lieferte vor rund 50 Jahren die Argumente der heutigen Gentrifizierungskritiker. Deshalb ist es gut, dass das Buch nun endlich auch auf Deutsch vorliegt, erschienen in der Hamburger Edition Nautilus. Für Verlegerin Hanna Mittelstädt bietet der Text historische und aktuelle Erkenntnisse.
    "Also man kann überrascht sein, was damals alles schon angesprochen wurde und was damals schon als Problem gesehen wurde, zum Beispiel der Tourismus. Das finde ich geradezu lustig, weil er natürlich in keinem Verhältnis zu dem steht, was heute in Städten wie Hamburg, Barcelona, Berlin oder sonst wo an Tourismus in den Ort eingreift."
    "Der städtische Kern wird so zum Produkt eines qualitativ hochwertigen Konsums für Ausländer, Touristen, Leute aus der Peripherie, Bewohner der Vororte. Er überlebt dank dieser Doppelrolle als Ort des Konsums und Konsum des Ortes."
    Und an anderer Stelle heißt es:
    "Die historisch geformte Stadt (...) ist nur noch ein Gegenstand kulturellen Konsums für die Touristen, für den Ästhetizismus, der nach Spektakel und Pittoreskem lechzt."
    Wiederaneignung des städtischen Raums
    Lefebvre erlebt und analysiert, wie die Stadt durch Kommerzialisierung auseinander bricht – und er setzt dieser Entwicklung das "Recht auf Stadt" entgegen. Es ist ein Appell zur kollektiven Wiederaneignung des städtischen Raums.
    "Das Recht auf Arbeit, auf Wissen, auf Bildung, auf Gesundheit, auf Wohnen, auf Freizeit, auf Leben – sie würden die Realität ändern, wenn sie zur gesellschaftlichen Praxis würden. Zu den sich herausbildenden Rechten gehört das Recht auf Stadt."
    Lefebvre meint damit das Recht, nicht ausgeschlossen zu werden aus den Zentren, teilzuhaben und teilzunehmen an politischen Debatten und Entscheidungen, Zugang zu den Leistungen und Möglichkeiten der urbanen Gesellschaft zu haben.
    "Also die Stadt als Pluralität, die Stadt als Koexistenz und Simultaneität, niemals darf in der Stadt segregiert werden, es darf keine Ghettos geben, es muss den Platz für alle geben, für Begegnung, für Aneignung von Kenntnissen, von Information, für Produktion, für Aneignung des öffentlichen Raums. Es gibt auch ganz stark interessanterweise den Aspekt des Festes. Stadt muss Raum geben für schöpferische Werke, für schöpferische Begegnungen, für das Fest, für die Sozialität."
    In vielen Städten auf der ganzen Welt gibt es seit einiger Zeit Protestgruppen, die sich auf Lefebvre berufen. In Deutschland ist es vor allem das Hamburger "Recht auf Stadt"-Netzwerk, das beispielsweise die Neubaupläne eines Investors im historischen Gängeviertel verhinderte. Es ist erfreulich, dass die Aktivisten die Texte ihres intellektuellen Vordenkers nun auch auf Deutsch lesen können. Doch auch für alle anderen, für Stadtbewohner und –besucher, für Experten in Architektur und Stadtentwicklung, für Politiker, die überlegen müssen, wo sie Flüchtlinge unterbringen und wem sie die Filetstücke der Stadt verkaufen, ist diese Lektüre ein Gewinn.
    Henri Lefebvre: Das Recht auf Stadt. Aus dem Französischen von Birgit Althaler, Deutsche Erstausgabe, Edition Nautilus, 224 Seiten, 18 Euro.