Dienstag, 23. April 2024

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Genuss und Entspannung
"Selbstbestimmung ist das wesentliche Kennzeichen der Muße"

Muße habe in unserer Gesellschaft eher ein schlechtes Image, sagte der Publizist Ulrich Schnabel im DLF. Eine Auszeit habe nicht nur mit Faulenzen oder auf dem Sofa liegen zu tun, vielmehr gehe es um das Gefühl der Selbstbestimmung. Gerade in der heutigen Arbeitswelt komme einem schnell das Gefühl abhanden, selbst entscheiden zu können. Doch man müsse nicht immer "funktionieren".

Ulrich Schnabel im Gespräch mit Michael Köhler | 10.07.2016
    Die Krankenkassen fördern schon heute Bewegungs- und Entspannungskurse.
    Ulrich Schnabel : "Nichtstun und der Müßiggang hat bei uns ein ganz schlechtes Image" (imago/Westend61)
    Michael Köhler: Die Urlaubs- und Ferienzeit hat begonnen. In Eile und mit Hektik werden Sachen gepackt und die Autobahnen sind verstopft, kultische Prozessionen nach Süden beginnen. Rasch in den Urlaub, in die Auszeit! Das kann schiefgehen und Konflikte befördern. Der eigene Körper rebelliert, macht schlapp, man lernt die eigene Familie und die eigenen Kinder kennen, streitet sich, Unruhe statt Ruhe stellen sich ein.
    Der Wissenschaftsjournalist und Autor Ulrich Schnabel hat ein Buch über "Muße" geschrieben, "Vom Glück des Nichtstuns". Muße heißt für ihn jedenfalls nicht nur "Abhängen" und inaktiv sein. Ihn habe ich zuerst gefragt, sind Urlaubszeit- Ferienzeit- Fragen wesentlich erst einmal Synchronisierungsprobleme verschiedener Lebensgeschwindigkeiten und Personen?
    Erwartungen an den Urlaub runterschrauben
    Ulrich Schnabel: Ich glaube, das Hauptproblem sind die Erwartungen, die man an diese Zeiten hegt. Viele haben ja die Vorstellung, der erste Ferientag und sofort ist man entspannt und jetzt beginnt die Ferienzeit und alles wird gut, und wie Sie beschrieben haben, ist es ja gerade am Anfang oft eher noch stressiger, weil es müssen die Sachen gepackt werden und so weiter. Ich glaube, man muss die Erwartungen einfach erst mal extrem runterschrauben und sich darauf einstellen, dass der Übergang von der Arbeits- in die Ferienzeit, dass das zum Teil wirklich mühsam ist und neue Schwierigkeiten und Konflikte schaffen kann, und darauf muss man sich einstellen. Wenn man das vorher schon weiß, dass geht man damit auch anders um. Und wenn man auch weiß, dass der Körper natürlich auf den Arbeitsmodus eingestellt ist und auch ein paar Tage braucht, um in den Ferienmodus zu kommen, dass ist es auch nicht so schlimm, wenn man vielleicht erst mal krank wird oder einen Schnupfen kriegt oder sich nicht so gut fühlt. Das ist häufig so, in den ersten Ferientagen werden viele Leute gerne mal krank, weil dann der Körper endlich mal auch Zeit hat, krank zu werden. Solange man immer im Arbeitsstress ist, hält man die Anspannung hoch und der Körper hält auch sein Immunsystem hoch, und in dem Moment, wo die Entspannung kommt, da gibt es dann so einen Spannungsabfall und dann wird man gerne mal krank oder kriegt eine Erkältung und denkt, Mist, jetzt habe ich doch eigentlich Urlaub und jetzt bin ich krank. Darauf muss man sich aber einstellen. Dann kann man diese Schwierigkeiten auch schon als erste Phase der Entspannung wahrnehmen, nicht sich darüber ärgern, sondern sich sagen, okay, das gehört eben auch dazu.
    Köhler: Also reflektierte Muße und nicht sagen, schnell mal entspannen und für 48 Stunden ins Kloster oder zu Exerzitien auf den Jakobsweg?
    Schnabel: Ja, genau. Das ist ja im Prinzip die innere Haltung, die man in der Arbeitswelt ja immer hat, die Dinge schnell erledigen, möglichst effektiv sein, und eigentlich gilt es ja, davon Abschied zu nehmen, von diesem Effektivitätsdenken. Im Urlaub muss man nicht effektiv sein und da muss auch die Entspannung nicht sofort instantan und effektiv kommen, sondern auch die Entspannung darf sich ein bisschen Zeit lassen.
    Köhler: In einem der langsamsten Romane, einem der wunderbarsten der deutschen Literaturgeschichte, im "Zauberberg", da spricht Thomas Mann von diesem schrecklichen Aktivitätskommando der Moderne - ein wunderbares Wort: Aktivitätskommando.
    Schnabel: Ja.
    "Müßiggang hat bei uns ein ganz schlechtes Image"
    Köhler: Wir sehen das ja: Beschleunigung ist überall prämiert. Wir bewundern Formel-I-Fahrer, die mit 300 Sachen im Kreis fahren, oder Sprinter, in der Wissenschaft das schnelle Erreichen ist prämiert. Keiner sagt, Mensch, der hat mit 45 endlich sein Diplom geschafft oder so, oder braucht 30 Sekunden für 100 Meter. Muße ist irgendwie nicht so richtig prämiert, oder?
    Schnabel: Nee! Muße hat eher sogar ein schlechtes Image, würde ich sagen. Es gibt ja zahlreiche Sprichwörter, "Müßiggang ist aller Laster Anfang", "Die Konkurrenz schläft nicht" und so weiter, die eigentlich zeigen, dass Nichtstun und der Müßiggang hat bei uns ein ganz schlechtes Image, ist schlecht angesehen. Es ist ja auch so: Wer erfolgreich ist, hat einen prallvollen Terminkalender. Man kann den Erfolg von jemand daran ablesen, wie wenig Zeit er hat. Und jemand, der viel Zeit hat, das ist uns suspekt. Da haben wir das Gefühl, oh, der ist offenbar nicht gefragt, ist vielleicht sogar arbeitslos, ist rausgefallen aus den Arbeitszusammenhängen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Zeitnot mit Status einhergeht, und jemand, der viel Zeit hat, das ist in der Tat schlecht angesehen, und das macht uns dann häufig selbst auch ein schlechtes Gewissen. Aber selbst wenn wir dann mal Zeit hätten und uns irgendwie der Muße hingeben könnten, dann haben wir das Gefühl, jetzt haben wir doch so viel Zeit, jetzt könnten wir doch ganz viel erledigen. Selbst an den freien Tagen sind wir immer noch in diesem Geschwindigkeits- oder in diesem Dinge abarbeiten Modus, und das braucht Zeit, da rauszukommen.
    Köhler: Ulrich Schnabel, Sie sind Verfasser des Buches "Muße - Vom Glück des Nichtstuns". Das Buch heißt "Muße" und nicht etwa "Lob der Langsamkeit".
    Schnabel: Ja.
    Köhler: Ich möchte mit Ihnen ein bisschen mal das problematisieren oder auch eine kleine Kritik vielleicht der Langsamkeit versuchen. Wenn ich in unserem Interview jetzt immer langsamer sprechen würde, würden Sie zurecht ungeduldig werden.
    Schnabel: Ja.
    Köhler: Das heißt, das Heil liegt nicht darin, sondern es ist eher das kontemplative Moment.
    Schnabel: Ja.
    "Wir haben uns daran gewöhnt, Muße mit Faullenzen gleichzusetzen"
    Köhler: Ich möchte noch einen draufsetzen und sagen: Vom Flanieren, vom Müßiggang, da träumten schon die Snobs und die Gentlemen mit Gehknauf und weißem Anzug in den Romanen um 1900, sich der Zeit zu entziehen. Der Flaneur hatte ein Wappentier: die Schildkröte.
    Schnabel: Ja.
    Köhler: Damit geht aber auch etwas einher: Eine Abkehr von der Welt und dem Sozialen. Also auch ein Stück Snobismus?
    Schnabel: Ja das kommt jetzt in der Tat auf das Verständnis von Muße an. Wir haben uns daran gewöhnt, Muße mit Faullenzen oder, wie Sie es gerade beschrieben haben, Flanieren gleichzusetzen. Ich versuche, in meinem Buch eigentlich einen etwas anderen Begriff von Muße rüberzubringen, weil es gibt den schönen Begriff "Eigenzeit", von einer österreichischen Soziologin geprägt.
    Köhler: Von Helga Nowotny?
    Schnabel: Die Helga Nowotny. - Und "Eigenzeit" beschreibt eigentlich eine innere Haltung, die einfach nur sagt, ich habe das Gefühl, ich bin in Übereinstimmung mit dem, was mir im Leben wichtig ist. Und das ist eine Definition, die völlig unabhängig ist von dem, was Sie tun. Sie können auch bei der Arbeit das Gefühl haben, Sie sind in Übereinstimmung mit dem, was Ihnen wichtig ist. Sie können auch bei hoher Aktivität, nehmen wir Bergwandern oder Schwimmen, Musizieren, Tanzen, Lieben, was auch immer, natürlich sehr stark das Gefühl haben, Sie sind in Übereinstimmung mit dem, was Ihnen wichtig ist. Muße ist für mich überhaupt nicht auf Flanieren oder auf dem Sofa liegen beschränkt, sondern es geht eher um dieses Gefühl, ich bestimme selbst darüber, was ich tue, und ich gebe mir selbst den Impuls und ich werde nicht von außen gesteuert. Und das ist sehr häufig in der Arbeitswelt so, dass wir eben gerade nicht das Gefühl haben, selbst entscheiden zu können, sondern wir müssen funktionieren oder wir kriegen von anderen Leuten gesagt, was wir zu tun haben, oder die Globalisierung sagt, wie schnell wir uns bewegen müssen. Und da mal rauszukommen und wieder dieses Stück Selbstbestimmung zu haben, das ist eigentlich für mich das wesentliche Kennzeichen der Muße.
    "Wir sind es gewohnt, permanent mehrere Dinge gleichzeitig zu tun"
    Köhler: Man sagt es ja so umgangssprachlich auch, ach da hab ich jetzt nicht die Muße zu, ein Bild zu betrachten. Dieses ästhetische Moment, oder ich werde jetzt etwas sonntäglich, liegt darin nicht auch so ein - Sie haben es ja gerade schon gesagt - kontemplatives Moment, auch das auszuhalten, dann mal einen Moment mit sich allein zu sein?
    Schnabel: Ja, oder einfach auszuhalten, sich mit einer Sache auseinanderzusetzen. Wir sind ja heute gewohnt, nicht zuletzt durch die Handys und durch die ganzen digitalen Medien, dass wir permanent mehrere Dinge gleichzeitig tun, dass wir irgendwie ein Bild betrachten, nebenher irgendwie die E-Mails checken oder vielleicht noch in der WhatsApp-Gruppe uns mit jemand austauschen über das Bild. Wir sind sehr oft so multimodal unterwegs, weil wir immer das Gefühl haben, eine Sache allein, das reicht gar nicht, ich muss meine Erlebnisfähigkeit möglichst maximieren. Das führt natürlich dazu, dass es ganz schwer ist, sich mal mit einer Sache zufrieden zu geben und nicht innerlich schon wieder gleich zum nächsten zu springen. Und genau dieses kontemplative Moment, was Sie ansprechen, ist zunächst mal ein gewisser Verzicht, weil man jetzt irgendwie auf die anderen Dinge verzichtet, aber gleichzeitig macht es natürlich ein sehr viel größeres Erleben möglich, dass man wirklich sich dann mal in ein Bild versenkt und sich mit dem sozusagen unterhält oder anregen lässt. Dazu brauchen Sie ein bisschen Zeit und dazu muss man sich auf eine Sache auch wirklich einlassen können.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.