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Geordnet und katalogisiert in Reih und Glied

Winter 2029: Nach neun Jahren ist eine Diktatur in Deutschland zu Ende gegangen. Vor dem Hintergrund dieser Utopie liegt das Augenmerk in Jochen Schimmangs "Neue Mitte" aber nicht auf der Tragödie der Diktatur, sondern auf der Phase des Neubeginns. Symbol dafür ist eine Bibliothek.

Von Angela Gutzeit | 17.01.2012
    Jochen Schimmang baut raffinierte Plots, deren Verzweigungen mitunter im nächsten Buch eine Fortsetzung finden. So taucht einer der Protagonisten des Bonn-Romans, Gregor Korff, im neuen Buch wieder auf. Allerdings nicht leibhaftig, sondern als Autor-Name, als Schöpfer des Romans "Das Sonja-Komplott", ein Roman, der den Ich-Erzähler, Ulrich Anders, geradezu leitmotivisch begleitet. Auch wird vermutet, Gregor Korff, einst in Bonn ein hoher Politikberater, sei der bislang unbekannte Vater des Ich-Erzählers.

    "Neue Mitte" ist aber keine Fortsetzung des Bonn-Romans. Aber auch nicht das totale Gegenstück, wie in manchen Kritiken behauptet wird. Die Handlung ist dieses Mal zwar in der Hauptstadt Berlin angesiedelt und das auch noch in der Zukunft, nämlich in den Wintermonaten 2029/2030; eine neunjährige Diktatur ist vor wenigen Jahren zu Ende gegangen und in den Trümmern des Regierungsviertels regt sich - völlig unreglementiert - intellektuelles, innovatives Leben. Aber trotz dieser Verlagerung in ein reichlich ungemütliches Ambiente, Jochen Schimmang knüpft hier doch an Utopien und Denkmuster der alten Bundesrepublik an - verborgen in einem verschlungenen Verweissystem von Buchtiteln, Buchzitaten, modifizierten Autorennamen und Figuren der literarischen Moderne. Das energetische Kraftzentrum dieses Verweissystems ist eine Bibliothek, deren langsam wachsender Bestand aus Schenkungen und Ankäufen besteht. Ulrich Anders ist nach Berlin gekommen, um seinem älteren Freund aus Studienzeiten, Kai Sander, beim Aufbau dieser Bibliothek inmitten der Trümmer zu helfen. Statt erschüttert zu sein über die Verwüstungen, ist der 35-jährige Anders begeistert.

    "Eine so prächtige Ruinenlandschaft hatte ich in der Tat noch nie gesehen. Ich hatte bisher überhaupt noch keine Ruinenlandschaften gesehen, weil der Westen von den Kämpfen praktisch nicht berührt gewesen war. Dagegen nun dieses wüste Terrain! Bei manchen Gebäuden war kaum zu entscheiden, ob sie sich schon im Wiederaufbau befanden oder ob sie im Gegenteil morgen vielleicht ganz abgerissen werden sollten. Zwischen den Ruinen herrschte reger Verkehr; fast entstand für mich der Eindruck, als spiele sich auf diesem Gelände das Leben vorwiegend draußen ab. Zugleich wurden die meisten der Ruinen schon genutzt. Als in der beginnenden Dämmerung die ersten Lichter eingeschaltet wurden, sah ich das Leben in den Büros, den Betrieben und Wohnungen, und plötzlich wusste ich, dass ich hier bleiben würde."

    Nun ist die Romanidee, in Deutschland hätte im Jahre 2016 eine Junta die Macht erobert, nicht gerade originell, zumal ihr beispielsweise als Emblem ein Doppelblitz zugeschrieben wird. Die nationalsozialistischen Anleihen sind überdeutlich. Von den Protagonisten in der Ruinenlandschaft aber ist zu erfahren, dass diese erneute Diktatur nur ein müder Abklatsch des faschistischen Vorläufers gewesen sei. Irgendwie ist sie dann in sich zusammengebrochen, der Junta-General in den Untergrund abgetaucht. Der Begriff der "Farce" taucht im Roman mehrmals auf. Die Wiederholung als Farce, als zahnloses Remake, hervorgegangen aus einer verbrauchten Gesellschaft, der nach 1989, also nach der Wende, die Kraft fehlte und die die Chance verpasste, sich neu zu erfinden. Die Historikerin Ute Wellkamp von der Freien Universität Berlin, auch eine aus dem Kreis der wilden Siedler auf dem Ruinengelände, nach den Gründen der diktatorischen Machtübernahme befragt, formuliert es so:

    "Wegen allgemeiner Erschöpfung, würde ich sagen. Ich bin 1990 geboren, also direkt im Jahr der Einheit. Ich bin also so alt wie das neue Deutschland und habe - rein lebensgeschichtlich - bis 2016 nichts anderes gekannt. Aber im Nachhinein habe ich den Eindruck, als sei das Land auf eine andere Art älter geworden als ich. Spätestens ab 2009, da war ich gerade mal neunzehn, hatte ich das Gefühl, ich werde erwachsen, aber mein Land weiß immer noch nicht, was es mit seinem Leben und der Welt anfangen soll. Ich kann das schlecht genauer beschreiben. Es war einfach eine Leerstelle da, und in die sind die Generäle gestoßen."

    So liegt das Gewicht in Schimmangs Roman auch nicht auf der Ausmalung der Tragödie einer Diktatur. Vielmehr geht es dem Autor um das Phänomen des Zwischenzustands, um die Phase des Neubeginns, wenn alles noch offen ist, wenn die Ideen blühen und die Vergangenheit befragt wird nach unabgegoltenem, utopischem Potenzial. Schimmang beleuchtet in "Neue Mitte" diese kurze kreative Phase, der unausweichlich der Umschlag in die Verfestigung folgt. Das Symbol dafür ist die Bibliothek, die Kai Sander und der Ich-Erzähler aufbauen, bis alles geordnet und katalogisiert in Reih und Glied steht.

    Wie im Utopia Westberlins der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts, so ist es hier ein Ort im Herzen der Hauptstadt, wo gelesen, diskutiert, geliebt und Neues erschaffen wird - bis der Moment der Wissbegier und des Neuanfangs wieder seine Kraft und seine Unschuld verliert. Aber es scheint, als wolle Schimmang nicht nur die Diktatur, sondern auch diese intellektuelle Ruinen-Gemeinschaft in die Nähe einer Farce rücken, zumindest eines schwachen Widerscheins der einstigen Revolte. Der etwas antriebslose und eher beobachtende Ulrich Anders trägt nicht ohne Hintersinn den Namen von Musils Protagonisten aus "Der Mann ohne Eigenschaften". Ähnlich wie in Musils Roman muss Ulrich erkennen, dass es keine wirklich verbindende Idee zu einem neuen Aufbruch gibt, dass letztendlich jeder seinen eigenen Interessen nachgeht. Wie Anders’ kurzzeitige Freundin Eleanor Rigbey, die namensgerecht aus Liverpool stammt und ihr kreatives Potenzial für die Erfindung einer Software einer elektronisch gesteuerten Waffe vergeudet.

    Jochen Schimmang spielt mit diesen Namen und Kontexten und schafft es dadurch, den Leser in ein Labyrinth von Andeutungen zu ziehen, in dem sich immer wieder neue Bezüge auftun, die dem Handlungsgeschehen weitere Facetten und Bedeutungen zufügen. So hat der Bibliothekar Kai Sander, als er Ulrich Anders kennenlernt, ein Buch in der Hand mit dem Titel "Der Tod des Jorge von Burgos". Schnell ist man da beim Romancier und Semiotiker Umberto Eco und seinem Roman "Im Namen der Rose", in dem der Bibliothekar Jorge von Burgos eine labyrinthartige Klosterbibliothek verwaltet. Auch das verschlungene kriminalistische Element in Ecos Roman ist bei Schimmang zu finden, da einer der Buchspender mit Namen Oliver Kolberg, einst ein bedeutender Staatsrechtler, der die Junta unterstützte - eine Parallele zu Carl Schmitt - ermordet aufgefunden wird.

    Und so entfacht Schimmang einen detektivischen Lese-Eifer, der zu Nachforschungen anregt. Wie bei Umberto Ecos vielschichtigem Roman muss man diesen Spuren nicht nachgehen, um das Buch mit Gewinn zu lesen. Aber es verschafft ein großes intellektuelles Vergnügen - sich, um ein weiteres Beispiel zu nennen, mit dem Namen des Restaurants auf dem Ruinengelände zu beschäftigen: "le plaisir du texte" heißt es. "Die Lust am Text"? War da nicht was mit Roland Barthes? Hat der französische Philosoph nicht einen Essay geschrieben über die Erotik der Text- und Zeichendeutung? Auch der französische Autor Michel Butor ist in Schimmangs Roman versteckt und damit wohl dessen ästhetischer Anspruch, die Welt im Text für einen Augenblick zeichenhaft neu zu deuten.

    Vielleicht kann man sagen, Jochen Schimmang hat uns in seinem Roman "Neue Mitte" mit seinen ausgeklügelten Stilmitteln und seiner intelligenten Konstruktion eine solche Situation gekonnt und unterhaltsam vor Augen geführt, eine Situation, in der sich etwas Neues Bahn bricht und sich für einen kurzen Moment fruchtbar und glückhaft mit Altem zu verbinden scheint. Auch wenn alles wieder in sich zusammenfällt, versteinert oder zur Karikatur seiner selbst wird - über diesen Moment und seine genutzten oder verpassten Chancen lohnt es sich, nachzudenken.

    Jochen Schimmang: Neue Mitte.
    Verlag Nautilus
    256 Seiten, 19,90 Euro