Mittwoch, 24. April 2024

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Georg Bernardini
Die Welt der Schokolade

Es klingt für manche nach einem Traumberuf: Schokoladentester. Georg Bernardini hat weltweit über 4.000 verschiedene Schokoladen verkostet und akribisch bewertet. Spaß hat es ihm allerdings nicht immer gemacht. Manchmal auch überhaupt nicht. Mit einigen Milka-, Godiva- und Lindt-Produkten braucht man ihm nicht zu kommen.

Von Eva Gritzmann | 11.03.2016
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    Auch beglische Schokolade kommt bei Georg Bernardini nicht gut an. (picture-alliance/ dpa)
    Es wird zu viel gelobt auf der Welt. Hier nicht. Dieses Buch ist ein Schlachtfest und ein Massaker, ein Gemetzel und eine Orgie der Zurückweisung. Endlich sagt mal einer nein. Endlich steht mal einer auf und wehrt sich gegen Papp und Schmu, gegen Zumutungen und Abgeschmacktheiten, gegen alles, was unser Alltag an Fadem und Banalem bereithält. Hier wird penibel Perfektion eingefordert. Hier werden Werte keinem faulen Kompromiss geopfert. Hier wird auf Ansprüchen beharrt - ohne jeden Rabatt, dafür mit kräftig Rabatz. Schließlich geht es um etwas sehr, sehr Wichtiges: es geht um Schokolade!
    Niemand ist geeigneter, mit einigen mythischen Schokoladen-Marken abzurechnen, als der Schokoladentester Georg Bernardini. Der 1967 geborene Sohn einer deutsch-italienischen Gastronomenfamilie ist gelernter Konditor und Mitgründer der Confiserie Coppeneur, einer Pionierfirma im deutschen Schokoladenmarkt. Für sein fast tausendseitiges Handbuch hat Bernardini 4.000 Schokoladenprodukte von 550 Unternehmen aus 70 Ländern verkostet und bewertet. Er hat dafür Schokoladenprodukte aus Kamelmilch gegessen, Kakao aus Vietnam verkostet und sich Konfekt mit Zwiebelfüllung in den Mund gesteckt. Sein Wissen verleiht ihm die Kompetenz, einige schillernde Seifenblasen der Schokoladenwelt zum Platzen zu bringen. Zum Beispiel Konfekt von Godiva:
    "Die Produkte sind alle von einfacher Qualität. Fettige, buttrige und viel zu süße Füllungen…"
    Ferrero Kinderschokolade:
    "Eine süße, im Mund etwas klebrig-schmierige Füllung. Schmeckt dezent nach Milch und auch nicht übermäßig nach Kakao. Ein Produkt, das vor allem als Kohlenhydrat-Lieferant dient."
    Hersheys Milchschokolade:
    "Schmeckt extrem ranzig-käsig. Extrem süß, kaum Kakao-Charakter, etwas milchig. Mit künstlichen Aromastoffen. Ungenießbar."
    Schokolade von Lindt & Sprüngli:
    "Lindt-Produkte sind allgegenwärtig und Lindt ist wohl die weltweit bekannteste Schokoladenmarke. Das beruht nicht auf der heutigen Qualität der Produkte, sondern auch auf historischen Ereignissen und überaus professionellem und cleverem Marketing und Vertrieb."
    Kritik an Milka
    Milka Zartherb, Milka Alpenmilch und Milka Weiße Schokolade:
    "Diese drei getesteten Schokoladen sind des Namens 'Schokolade' unwürdig und es ist kaum zu glauben, dass jedes Jahr alleine in Lörrach 140.000 Tonnen von diesem ungenießbaren und absolut überflüssigen Zeug hergestellt und demnach auch verkauft wird."
    Sarotti Schokolade aus Berlin:
    "Ich möchte ja keinem Menschen und besonders nicht meinen Lesern auf die Füße treten oder gar beleidigen. In keiner Weise soll es respektlos klingen und arrogant erscheinen und ich versuche mich so vorsichtig wie möglich auszudrücken. Welcher Mensch ist in der Lage (…) diese Art Produkte zu essen, geschweige denn zu genießen? Bei allem Verständnis, ich kann das einfach nicht nachvollziehen."
    Schokolade von Suchard:
    "Die Produkte sind so schlecht, dass sich ein weiterer Kommentar erübrigt. Schlechter Geschmack, schlechtes Aroma und minderwertige Rohstoffe. Dieser Satz auf der Website von Suchard hat Comedy-Potential: 'Philippe Suchards Streben nach Qualität hat alle Veränderungen überdauert: Nur die besten Zutaten und besondere Rezepte werden zur Herstellung unwiderstehlicher Schokoladenkompositionen verwendet, um das Leben unserer Kunden mit feinster Suchard-Schokolade zu versüßen.' Das schreibt ein Unternehmen, das künstliche Aromastoffen in seinen Produkten systematisch einsetzt."
    Kein Fan belgischer Schokolade
    Ja mitunter trifft Georg Bernardinis Bannspruch ganze Länder und ihre international hochgeschätzten Confiserie-Stars:
    "Liebe Belgier, jetzt müssen Sie alle stark und mutig sein, um diese Zeilen zu lesen (…) Belgien hat seine Schokoladenkultur fast gänzlich verloren. (…) Warum typisch belgisches Konfekt ein so großes Ansehen genießt, werde ich nie verstehen. Ich assoziiere es mit Leonidas, Neuhaus, Guylian oder Godiva: einfache, süße und aromaschwere Schokolade, fettige, schwere und süße Füllungen mit wenig Aroma und Geschmack. Diese Hersteller zähle ich nicht zu den guten Confiseuren, aber sicher zu den guten Unternehmern, deren Marketingleistung große Anerkennung verdient. Mit mittelmäßigen bis unterdurchschnittlichen Produkten weltweit einen guten Ruf aufzubauen, verdient größten Respekt."
    Georg Bernardini ist ein Freund klarer Worte. Das merkt man schon am Titel. Hieß die erste Auflage von 2012 noch "Der Schokoladentester", so nennt Bernardini die Neuauflage nun selbstbewusst: "Schokolade - Das Standardwerk." Der Titel ist keine Untertreibung. Georg Bernardinis Rundgang durch die internationalen Schokoladensorten ist für die Welt der Chocolatiers, Confiseure und Patissiers das, was der Michel-Katalog für Briefmarkensammler und Schöns Münzkatalog für Numismatiker ist. Ja mehr noch: Georg Bernardini erzählt in einem selbst schon buchlangen Teil die Kulturgeschichte der Schokolade von der Kakaobohne zum Konfekt und lässt dabei auch die dunklen Seiten der Schokolade nicht aus - Kinderarbeit auf Kakaoplantagen ist keine Seltenheit, in früheren Jahrhunderten waren Schokolade und Sklaverei fast Synonyme. Und ganz en passant dringt Georg Bernardini dabei zu den Kernfragen der Gourmandise vor:
    "Haben Sie Spaß daran, ein Schokoladenprodukt mit naturidentischen oder künstlichen Aromastoffen zu essen und zu wissen, dass Ihnen nur vorgegaukelt wird, es handele sich um ein Naturprodukt? Finden Sie es wirklich interessant und genussvoll, wenn ein Hersteller nur mit Aromastoffen in der Lage ist, das Aroma und den Geschmack der namensgebenden Zutat zu treffen? Wäre es nicht weitaus befriedigender, ein Fruchtkonfekt zu konsumieren, das nicht nur das Aroma, sondern auch den Charakter der Frucht besitzt - und das mit rein natürlichen Rohstoffen, ohne Tricksereien mit Aromastoffen? Wollen Sie Ihrem Gaumen weiterhin zumuten, von Aromen überlistet, betrogen und geprägt zu werden? Glauben Sie ernsthaft, dass es Ihrem Gaumen auch nach jahrelangem Konsum von Aromastoffen noch möglich ist, das natürliche Aroma ausreichend zu erkennen und zu genießen. Ich glaube es nicht."
    Dem Leser läuft das Wasser im Mund zusammen
    Georg Bernardini lässt seinen Leser zwar hin und wieder das Wasser im Mund zusammenlaufen, schmiert ihnen aber keinen Honig ums Maul. Und wie nebenbei weiht Bernardini kompetent in die Mysterien der Herstellung von Nougat, Konfekt und Schokolade ein:
    "Erwärmen auf ca. 45°C, abkühlen auf 28°C und wieder erwärmen auf 32°C. (….) Durch das Durchlaufen der unterschiedlichen Temperaturen können die Fettkristalle der Kakaobutter eine stabile Struktur aufbauen. Nur so ist es möglich, alle gewünschten Eigenschaften der Schokolade zu erhalten. Geringe Abweichungen der Temperaturkurve können bei der Weiterverarbeitung gravierende Folgen nach sich ziehen. Eines der großen Geheimnisse, warum Schokolade im Mund so unvergleichlich zart zergeht, liegt im Schmelzpunkt der Kakaobutter - er liegt bei ca. 34°C und damit knapp unterhalb der menschlichen Körpertemperatur. Schokolade, die andere Fette enthält, weist nicht annäherend einen so angenehmen Schmelz auf, da deren Schmelzpunkt weiter unter dem der Kakaobutter liegt."
    Manchmal ist das Geheimnis einer glücklichen Kindheit sehr prosaisch. "All you need is love - ab und zu ein bisschen Schokolade ist aber auch nicht schlecht." Längst hat sich diese Erkenntnis Bahn gebrochen, die der "Peanuts"-Zeichner Charles M. Schultz seinem Beagle Snoopy ins Maul legte. Doch Schokolade ist nicht gleich Schokolade. Georg Bernardini legt seine Kriterien offen und benennt, was er in Schokolade gar nicht mag: künstliche Aromen wie Vanillin, Kakaobutter-Zusatz, aber auch geschmacksverzerrende echte Vanille in Ursprungsschokoladen.
    Auch den gesundheitlichen Aspekten des Schokoladenkonsums widmet Georg Bernardini breiten Raum. Sehr wohltuend dabei ist, dass er dem weltweiten Trend zur Raw Chocolate, also zur Rohkostschokolade skeptisch gegenüber bleibt. Bernardini beklagt deren fehlende Aromenentwicklung, spricht von "Panscherei" und fragt, woher denn ohne Rösten und Fermentation der Kakaobohnen die Aromen kommen sollen. Auch die Sirenenklänge medizinischer Heilsversprechungen sogenannter Superfoods stoßen bei Georg Bernardini auf taube Ohren:
    "Camu Camu Berry, Mesquite Pod, Maca Root, Ashwaganda, Gotu Kola, Damiana, Fo Ti, Yohimbe, Dong Quai, Reishi Mushroom, Lucumafrucht, Acaibeeren, Spirulina oder Yaconsirup. Hört sich alles spannend und exotisch an, ist aber nicht immer schmackhaft. (…) Ich habe schon einige Produkte mit diesen Wunderzutaten gekostet, die letztendlich ungenießbar waren. (…) Bei Raw Chocolate und bei Superfood geht es in erster Linie um Gesundheit und nicht um Genuss. Bei Gesundheitsthemen jedoch bedarf es ganz besonderen Vertrauens. Das kann ich nicht in Unternehmen haben, die keinerlei gesetzlichen Bestimmungen unterliegen und wenig Auskunft von und über sich geben."
    Deutliche Gewichtszunahme durchs Testen
    In wenigen Ländern ist der Pro-Kopf-Konsum an Schokolade so hoch wie in Deutschland. Das vernichtendste Urteil für eine Schokolade in Georg Bernardinis Genusskosmos heißt: Kohlenhydratlieferant. Bernardini weiß um die Schattenseite der Schokolade.
    "Innerhalb von neun Monaten habe ich für mein erstes Buch täglich ca. 9 - 10 Schokoladenprodukte verkostet, mit einem Durchschnitt von 100 - 150 g. Gleichzeitig habe ich in dieser Zeit nahezu keinerlei Sport betrieben. Meine sonstige Ernährung blieb normal, vergleichbar mit der Zeit vor der intensiven Verkostung. Nach den neun Monaten brachte ich sechs Kilogramm mehr Gewicht auf die Waage. Es ist sicher unüblich, über einen längeren Zeitraum so extrem viele Süßigkeiten zu verzehren, ich würde auch jedem davon abraten und es selbst nicht noch einmal tun. Zumindest nicht, ohne regelmäßig Sport zu treiben."
    Georg Bernardini hat nicht nur seinem Körper einiges zugemutet, sondern für seine Recherchen rund um den Globus viel Zeit und Geld investiert. Die "Belize Chocolate Company" etwa produziert in winzigen Chargen von gerade mal 110 oder 120 Tafeln und nummeriert jede einzelne Tafel fortlaufend durch. Bernardinis Verkostungsnotiz dazu lautet:
    "70 Prozent Dark: Nur Kakaobohnen und Rohrzucker, beides aus Belize. Mild-herb, mit feinem Schmelz und weder sauer, noch adstringierend. Überraschend süß für den 'niedrigen' Kakaogehalt. Mit Aromen von Tropenfrüchten und Gewürzen."
    Bernardini aß Tafel 66 von einer Edition von 120. Für die langweilige Konfektionsware in unseren Supermarktregalen gilt "Raider heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix". Anders als die Einheitskost der Redundanzesser ist die Welt der Beans-to-Bar-Hersteller jedoch in ständigem Umbruch. Berlin, Brandenburg und Sachsen sind zur Zeit die Zentren dieser seit etwa 15 Jahren existierenden Szene von Schokoladenmanufakturen, die nicht auf fertige Kakaomassen oder Kuvertüren zurückgreifen, sondern ihre Schokolade von der Kakaobohne an bis zur fertigen Tafel selbst reinigen, rösten, brechen, mahlen, conchieren, gießen oder Konfekt daraus herstellen: denn just das und nichts anderes bedeutet "bean to bar". Anders als Österreich mit Zotter oder die Schweiz mit Idilio findet sich aber kein deutscher Hersteller unter Georg Bernardinis Top-Twentyfive-Liste jener Unternehmen, die für ihn den Maßstab für Schokoladenkunst der Gegenwart definieren. Zu Bernardinis Favoriten zählen Demarquette aus London, Es Koyama aus Japan, La Maison du Chocolat in Paris, Marcolini in Brüssel, Nobile aus der Schweiz und Domori aus Italien:
    "Domori bleibt bei dunkler Schokolade der Maßstab aller Dinge. Nicht jede Schokolade ist ein Volltreffer, jedoch kann insgesamt kein anderer Hersteller dieses hohe Niveau vorweisen. Auch in anderen Kategorien setzte Domori das eine oder andere Mal Maßstäbe, so dass im Gesamten keiner Domori den Spitzenplatz als bester Schokoladenhersteller der Welt streitig machen kann."
    Komplexität ist immer schön, und die Vermesser der irdischen Vielfalt sind auf dem Weg ins Paradies. Vladimir Nabokov fand sein Paradies im Reich der Schmetterlinge. Ernst Jünger unter Käfern. Georg Bernardini in der Schokolade. Sein "Schokolade - das Standardwerk" liefert genau, was der Titel verspricht.
    Georg Bernardini: "Schokolade - Das Standardwerk", Bernardini Verlag Bonn, 920 Seiten, Preis: 49,95 Euro.