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Georg-Büchner-Preis 2020 für Elke Erb
Schreiben als politischer Akt

Die deutsche Autorin Elke Erb erhält den Georg-Büchner-Preis. Der angesehene Auszeichnung ist Lebenswerk-Krönung und ästhetischer Aufbruch zugleich, denn Erb inspiriert die aktuelle Generation von Lyrikerinnen und Lyrikern mit einer ganz neuen Form des literarischen Schreibens.

Von Christian Metz | 07.07.2020
    Porträt der Autorin und Lyrikerin Elke Erb im Profil.
    Am Samstag (31.10.2020) findet die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an die Schriftstellerin Elke Erb im kleinen Kreis statt und kann per Livestream mitverfolgt werden. Die Auszeichnung ist mit 50.000 Euro dotiert. (imago images / gezett)
    Vor wenigen Tagen noch wies der Literaturkritiker Dirk Knipphals, darauf hin, dass es zwei Muster gebe, nach denen der Georg-Büchner-Preis verliehen werde. Zum einen als Krönung eines literarischen Lebenswerks. Und zum anderen – allerdings in weitaus selteneren Fällen – an Dichterinnen und Dichter, mit denen eine neue Ästhetik, eine ganz neue Form des literarischen Schreibens anbreche. Heute hat die "Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung" gezeigt, dass sie auch beide Muster mit der Auszeichnung einer einzelnen Preisträgerin vereinen kann.
    Die 1938 geborene Elke Erb ist nicht nur für ihr herausragendes Lebenswerk auszuzeichnen. Darüber hinaus ist sie kaum hoch genug dafür zu preisen, dass sie mit ihrem Schreiben eine ästhetische Innovation angestoßen hat, die gleichzeitig über ihr an Innovationen nicht gerade armes eigenes Arbeiten hinausweist: keine anspruchsvolle Lyrikerin, kein Lyriker, der nach dem Jahr 2000 begonnen hat zu schreiben, die oder der sich nicht direkt auf Elke Erbs Lyrik bezieht und von dort aus Schwung zum eigenen Schreiben nimmt.
    Elke Erb hat einer neuen Generation den poetischen Denkraum geöffnet, in dem sich diese Autorinnen und Autoren seither bewegen. Sowohl im Blick auf Erbs eigenes Oeuvre, als auch die ästhetischen Bewegungen, die sie in der deutschsprachigen Literatur schon jetzt angestoßen hat, ist sie fraglos eine überaus würdige Büchner-Preisträgerin. Beinahe möchte man sich dazu hinreißen lassen, die Jury für ihren mit dieser Verleihung unter Beweis gestelten "Sachverstand" zu bewundern.
    Poetischer Sachverstand
    Aber bevor es noch dazu kommt, fällt einem auf, dass die Jury in ihrer Begründung ihrerseits den "poetischen Sachverstand" von Elke Erb lobend hervorhebt. Ausgerechnet "Sachverstand" lautet wiederum der Titel einer von Elke Erbs Gedichtbänden, der wie zwölf weitere von ihr unter der Ägide des äußerst lyriksachverständigen Verlegers Urs Engeler erschienen ist.
    In dem Gedicht "Sachverstand", das dem Band seinen Namen gibt, weist Elke Erb auf ihre unnachahmlich gewitzte, aber auch analytisch klare Weise nach, dass dieser "Sachverstand" nie aus einem Vorab schon bekannten "Gewusst wie" entsteht. Sondern stets aus dem fragenden, vorsichtig tastenden Umgang mit den Sachen selbst:
    "Erst dieser ausreichende Umgang mit den Sachen erbringt es und erst aus dem Umgang mit den Denkbewegungen im Hinblick auf die Sachen, und auf die eigene Sache meiner Denkbewegungen wird dann die Vorstellung von der Ziel-Sache gepackt."
    Das ist in nuce ein typischer, und heute darf man hinzufügen "ausgezeichneter" Erb’scher Gedankengang: Ausgangspunkt ihres Schreibens ist der Umgang mit den Sachen. Mit allen Sachen, die ihr im Denken und Schreiben unterkommen, die ihr Leben ausmachen. Aber diese Sachen kommen ihr ihrerseits zwar unter, doch in Erscheinung treten sie eben erst in Gedanken.
    Der Reiter trägt den Esel
    Erst die Denkbewegung verleiht ihnen Kontur. Weshalb die Dichterin – als die Vermittlerin zwischen der Innen- und der Außenwelt – wiederum das Denken zu beobachten und zu denken hat. Und diese Auseinandersetzung mit dem Denken, samt seinen seltsamen Drehungen, Wendungen, Verkettungen und Sprüngen macht das Poetische aus. Elke Erb ist die Dichterin einer poetischen Denkweise, die ihrerseits sagt, was Sache ist oder erst noch Sache werden könnte. Die Frage, ob in diesem Fall erst die Sache war und dann das Denken oder umgekehrt, kommentiert Elke Erb lakonisch so:
    "Dass der Reiter den Esel trägt, das ist das alte Lied."
    Elke Erb versteht es, mit ihrem poetischen Sachverstand dieses alte Lied der logischen Verkehrung zu singen. Auf vergnügliche und einsichtsreiche, ideengefüllte und bildblühende Weise.
    Erbs maßgebliche Schreibweisen der Poesie
    Im Besonderen mit zwei Schreibweisen hat Elke Erb den Innovations- und Denkraum der deutschsprachigen Poesie weit geöffnet und der jüngeren Generation erlaubt, in eine weite poetische Welt einzutreten. Zum einen hat sie an die experimentellen Schreibweisen der Avantgarde der Moderne angeschlossen.
    Am pointiertesten sieht man dies in ihrem Gedichtband "Sonanz. 5 Minuten Notate". Jeden Tag hat Elke Erb sich aufs Neue vor ein weißes Blatt Papier gesetzt. Um zu notieren, was ihr ins Bewusstsein kommt. Oder was am Bewusstsein vorbei dennoch auf das Papier kommt. Herausgekommen sind atemberaubend waghalsige wie intensive, mitunter ausbalancierte, mitunter jäh abstürzende Miniaturen, in denen sich die Dichterin gleichsam vor den Augen ihrer Leserinnen und Leser um Kopf und Kragen schreibt. Auf diese Weise hat Elke Erb die ecriture automatique beerbt und in einen Modus des akribischen Selbststudiums gewandelt.
    Zum Zweiten hat sie das Prozessuale des Schreibens selbst in der Lyrik salonfähig gemacht. Schon ihr Band "Kastanienallee", für den sie 1988 mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde, bestand eben nicht nur aus Gedichten. Sondern darüber hinaus auch aus Kommentaren, die diese eigenen Texte ihrerseits wieder neu sichteten und bewerteten und zum Teil auch umschrieben. Die Kommentare dienten also nicht zu simplem Erklärung, sondern zu einer gezielten Form des Verkomplizierens, das seinerseits erhellend wirkte.
    Ein Gedicht, das "Seltsam" heißt
    Seither gehört es zu Elke Erbs Eigenarten, dass man ihr als ihr Leser zusehen kann, wie sie ihre Notizen, Aufzeichnungen und Gedichte wieder und wieder vornimmt, um sie zu kommentieren, zu verändern, einzuordnen, zu analysieren. So entsteht der sofort erkennbare, unbedingt eigene, mitunter seltsam anmutende Elke-Erb-Ton. Im Band "Sonnenklar" aus dem Jahr 2015 heißt es zum Gedicht "Seltsam" etwa:
    "Das Gedicht, das "Seltsam" heißt, ist auch seltsam. Während ich es im Sommer 2013 bearbeite, saß ich davor wie noch vor keinem, wie eine aufgerichtete Schlange, so seltsam fremd. Es war dann der Stolz dieses Sommers.
    / Ich las Korrekturen nachts, fand:
    Ein munteres Auf und Ab.
    Als begleite ein Lachen wie Licht
    den Report"
    Was wir für den Kommentar halten mögen, ist bereits der Beginn des Gedichts. Oder anders herum: wo der Kommentar beginnt und die Poesie aufhört, lässt sich bei Elke Erb nicht mehr bestimmen. Beides geht in eine fortwährende Denkbewegung über, die nicht mehr länger aus dem Gedruckten ausgesperrt wird. Sondern die sich, Schwarz auf Weiß, immer neu entfaltet. Diese Darstellung der Denkbewegung nehmen die jüngeren Generationen auf. Von hier aus entfaltet sich deren poetisches Denken.
    So muss man sich auch die Position der 1938 in Scherbach in der Eifel geborenen Elke Erb, die im Alter von zwölf Jahren mit ihren Eltern nach Halle kam und in der DDR aufwuchs – gegenüber der Gesellschaft und der Politik vorstellen: Ob ihre Texte schon Gedicht oder noch politischer und zugleich höchstpersönlicher Kommentar sind, lässt sich nicht genau auseinanderhalten. Indem sie das Ereignis des poetischen Schreibens selbst inszeniert aber, sind ihre Arbeiten zutiefst politisch. Denn das Schreiben und poetische Denken selbst, das Elke Erb so eindrücklich vor Augen stellt, ist ein zutiefst politischer Akt. Gerade wenn es sich mitunter weigert oder vermeintlich nonchalant dem Verhandeln bestimmter Zusammenhänge entzieht.
    Büchners Erbe
    Von diesem Beobachtungspunkt aus liegen zumindest drei Familienähnlichkeiten mit den Arbeiten Georg Büchners besonders nahe: Die erste Gemeinsamkeit findet sich in der naturwissenschaftlichen Genauigkeit, im unbändigen Willen zum Wissen, der sich seinen Gegenstand – die Sache, von der Kenntnis zu erlangen ist – wieder und wieder vornimmt.
    Wie Büchner so hat auch Erb diesen sezierenden, auf das kleinste Detail ausgerichteten Blick. Die zweite besteht im Blick auf die großen Veränderungen, die um das eigene Schreiben und Arbeiten geschehen: Sowohl im Fall des Autors von "Dantons Tod" als auch bei Elke Erb ist man gewillt von Revolutionen zu sprechen. "Der Strom des Lebens müsste stocken", so denkt Lucile, wäre es dem Einschnitt der revolutionären Ereignisse angemessen: Doch:
    "da ist noch alles wie sonst; die Häuser, die Gasse, der Wind geht, die Wolken ziehen."
    Vergleichbar hat man sich wohl auch die Haltung gegenüber der Beobachtung durch die Stasi zuerst und dann gegenüber der Friedlichen Revolution von 1989 vorzustellen. Stockte alles und floss doch Elke Erbs Schreiben in seiner ureigenen Art weiter? Über diese Erfahrung des Umbruchs wird im Anklang zur Büchner-Preis-Verleihung zu reden sein. Nicht aber ohne die dritte, auf der Hand liegende Gemeinsamkeit der beiden im Blick zu behalten.
    Ihre schier ungeheure Komik, ihre gewitzte Wendigkeit, die Elke Erbs Schreiben wie das von Büchner mitunter bis an die Grenze des Grotesken zu führen vermag. Dazu sicher an anderer Stelle und bestimmt auch von anderen mehr, heute aber kann man Elke Erb aber erst einmal nur aus vollem Herzen zum Erhalt des Büchner-Preises 2020 gratulieren. Lebenswerk-Krönung und ästhetischer Aufbruch zugleich – diese Verleihung zeugt von größtem poetischem Sachverstand.