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George Tabori
Neuerscheinungen zum 100. Geburtstag

Am 24. Mai wäre der Autor George Tabori 100 Jahre alt geworden. Seine größten Erfolge in Deutschland feierte er mit makaberen Tragikomödien wie "Die Kannibalen", "Mein Kampf" oder "Jubiläum". Taboris Romane hingegen wurden in Deutschland kaum beachtet - nun wurden sie neu verlegt.

Von Eva Pfister | 26.05.2014
    24. Mai 2004: George Tabori während einer Gala anlässlich seines 90. Geburtstags.
    George Tabori wurde 1914 in Budapest geboren. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Mit 56 Jahren kam George Tabori nach Deutschland, in das Land der Täter, die einen großen Teil seiner ungarisch-jüdischen Familie auf dem Gewissen hatten. Er brachte ein Theaterstück mit, das in Auschwitz spielt und von Menschfresserei unter halb verhungerten Häftlingen handelt: "Die Kannibalen". Die Aufführung in der Werkstatt des Berliner Schiller Theaters 1969 markiert den Beginn von Taboris Theaterkarriere im deutschsprachigen Raum. Das Geheimnis seines Erfolgs lag in seinem Versöhnungsangebot begründet. George Tabori betrachtete die Deutschen nicht als "Die Täter", er lehnte den Gedanken einer Kollektivschuld ab, wie er überhaupt pauschale Urteile verwarf.
    "Ich kann nicht Menschen pauschal begegnen, es gibt so was nicht wie "Die Deutschen"; ich muss einem Jeden persönlich begegnen, alles andere ist für mich das Böse und eine Lüge. Ob man über Frauen so redet, die Jugend oder das Theater. Diese Abstraktionen sind ein bequemer Weg, die Menschen zu verdinglichen, ein Ding von einem Menschen zu machen, und dann ist der Weg offen nach Hiroshima und Auschwitz."
    In New York, wo "Die Kannibalen" ein Jahr zuvor uraufgeführt worden war, reagierten Zuschauer und Kritiker entsetzt, auch in Berlin versuchte die jüdische Gemeinde, eine Aufführung zu verhindern. Erst 25 Jahre waren seit dem Holocaust vergangen, und nun zeigte George Tabori auf der Bühne, wie jüdische KZ-Häftlinge zu Menschenfressern werden. Das war ein Tabubruch ohnegleichen, und es kann nicht verwundern, dass viele Juden dem Werk verständnislos gegenüberstanden.
    Wenn man sich Taboris Werdegang genauer ansieht, stellt man fest, dass er nicht zufällig diese Rolle eines "Versöhnungsjuden" angenommen hat, wie Anat Feinberg in ihrer Biografie seine Rezeption im deutschsprachigen Raum umschreibt. Was George Tabori mit den Deutschen verband, war das Gefühl der Schuld. Denn während in Ungarn die Judenverfolgung einsetzte und sein Vater mehrfach interniert wurde, lebte Tabori ungefährdet als Zeitungskorrespondent und britischer Geheimdienstmitarbeiter auf dem Balkan und im Nahen Osten.
    Seine Erinnerungen an jene Jahre, die jetzt unter dem Titel "Exodus" veröffentlicht wurden, bestätigen, was Tabori schon in Interviews erzählt hatte: Es war eine glückliche Zeit für ihn, die Neugier trieb den jungen Mann durch manches Abenteuer, die Kriegsgeschehnisse verfolgte er mit ironischer Distanz. So richtig ernstnehmen konnte er weder die Nationalsozialisten noch die Briten und schon gar nicht sich selbst, den Geheimdienstoffizier Turner, der – nach seinen eher anekdotischen Erinnerungen zu schließen – kaum etwas Sinnvolles trieb. In Jerusalem machte er ein antifaschistisches Radioprogramm für ungarische Hörer, erfuhr später jedoch, dass es nie gesendet wurde. Die Frau, die ihn instruierte, hat er später geheiratet.
    "Während ich Miss Freunds Kinn betrachtete oder durch das Fenster weit ins Land schaute, fast bis zum Toten Meer und dabei über mein nächstes Buch nachdachte, war mein Vater zum dritten Mal verhaftet worden. Und ich, ich fand diese englische Kriegsführung wunderbar verrückt, mit all diesen angenehmen Einzelverrücktheiten. Auch dass ich am Ende ein britischer Staatsbürger geworden bin, habe ich mir nie verzeihen können."
    1943 kam George Tabori nach London, wo auch sein Bruder Paul lebte. Dort erfuhren sie nach dem Krieg, dass Cornelius Tabori im Juli 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Beide Söhne fühlten sich ihr Leben lang schuldig am Tod ihres Vaters.
    Über jene Zeit, die George Taboris Lebenstrauma begründete, erfährt man viel in seinen Romanen, die jetzt wieder neu aufgelegt wurden. Schon 1942 schrieb er in Jerusalem seinen Erstling, "Das Opfer". Darin nimmt er die Perspektive eines deutschen Majors ein, der im besetzten Serbien einen Engländer als Gefangenen betreut – und ihn zum Ende freilässt. Diese fast positive Zeichnung eines Feindes empörte die englische Kritik beim Erscheinen des Buches 1944. Interessant ist aber auch die Charakterisierung des Engländers. Er hält sich als Journalist in Sofia auf, wo er sich verliebt, muss dann aber nach Istanbul weiterziehen.
    Die Frau will ihm folgen und gerät auf ein jüdisches Auswandererschiff. Als es in Istanbul eintrifft, sind die Passagiere hungrig und krank, werden aber nicht an Land gelassen. Dieser Vorfall ist historisch, der Journalist Tabori konnte in Istanbul die Verhältnisse an Bord selbst in Augenschein nehmen und liefert im Roman eine erschütternde Beschreibung. Die junge Frau hat sich durch diese Erfahrung verändert und sieht, dass sie mit dem stets ironischen Engländer keine Gemeinsamkeiten mehr hat:
    "Ich fürchte, ich kann dieses Schiff nicht verlassen. Ich weiß: Du hast die wunderbare Gabe, die Dinge leicht zu nehmen und die richtige Perspektive zu behalten; du warst immer ein guter Beobachter, aber ich bin es nicht. Ich stecke drin in dieser Sache ... "
    Engagement gegen distanzierte Beobachtung: Noch zentraler ist dies das Thema in Taboris zweitem Roman, der 1946 mit der Widmung "Für meinen Vater" erschien. "Gefährten zur linken Hand" spielt 1943 in Italien nach der Absetzung Mussolinis – und zeichnet ein kritisches Bild eines egozentrischen Hedonisten, des ungarischen Bühnenautors Farkas. Sein Widerpart ist ein italienischer Revolutionär, der Farkas in lange, spannende Debatten über Sinn und Unsinn eines Lebens im Kampf verwickelt – bis die deutschen Truppen in dem idyllischen Badeort eintreffen.
    Dieser Roman war so erfolgreich, dass er in die Literaturempfehlungen der US-Army aufgenommen wurde und George Tabori einen Ruf nach Hollywood einbrachte, wo er sich ohne Erfolg als Drehbuchschreiber versuchte. 1951 erschien in den USA sein letzter Roman "Tod in Port Aarif". Noch einmal wird hier das Thema Schuld durch Gleichgültigkeit verarbeitet und im Gedankenfluss des sterbenden Helden explizit formuliert. Im letzten bewussten Moment meint der ermordete Schiffsarzt Varga zu spüren,
    "dass die Hinrichtung gerechtfertigt war; nicht wegen eines bestimmten Verbrechens, sondern mehr in einem umfassenden Sinn. Das Leben im Allgemeinen, sein Leben, jedes Leben, sofern es nicht heilig war, war verbrecherisch. Und deshalb war jede Strafe angemessen und konsequent. Man lebte wie ein Hund und starb wie einer; denn so waren Zeit und Ort, dass dem Gleichgültigen und dem Heillosen nicht verziehen werden kann. ... Varga empfand Hingabe und Erleichterung, bevor sie ihn über die Bordwand warfen."
    George Taboris Romane waren bisher in Deutschland nicht erfolgreich. Sie sind in der angelsächsischen Tradition eines Aldous Huxley oder Graham Greene verfasst, vermischen Thrillerelemente mit moralisierenden Reflexionen und sind nicht frei von Klischees. Es finden sich darin aber spannende Figuren und hochinteressante Beschreibungen von Ereignissen während des Zweiten Weltkriegs – und vor allem gewinnt man Einblick in George Taboris Kriegs- und Wanderjahre.
    In Hollywood begegnete Tabori vielen Prominenten, darunter auch Brecht, und der Eindruck von dessen Theaterarbeit bestimmte fortan sein Leben. Er zog nach New York, gründete eine Theatergruppe und besuchte öfter das Actor's Studio von Lee Strasberg. "Kannibalen" entstand Mitte der 60er-Jahre als verzweifelter Versuch der Selbsttherapie - "statt eines Nervenzusammenbruchs", wie Tabori sagte. Er wagte sich damit ins Zentrum seines Traumas vor, nach Auschwitz. Seinen Vater porträtierte er in dem Stück in der Figur des "Onkels". Ein Häftling, der stets auf Gewalt verzichtet und weder aus Hunger noch unter unmittelbarer Bedrohung zum Kannibalen wird.
    Man kann das Stück so deuten, dass Tabori sich von seinen Schuldgefühlen entlastete durch eine Verschiebung der Anklage zu anderen "Mittätern" hin – und seien es KZ-Häftlinge. Entsprechend Vargas Erkenntnis: Jedes Leben, sofern es nicht heilig war, war verbrecherisch. Nur seinen Vater ließ Tabori als schuldlos gelten. Was er über dessen Verhalten in einem Budapester Gefangenenlager erfahren hatte, machte ihn in seinen Augen zum Heiligen:
    "Man wollte ihn befreien. Es war eine kleine illegale Bewegung, da gingen noch solche Sachen. Er hat sich geweigert. Er sagte: Was ist mit den anderen 1200, die noch da sind?"
    1987 inszenierte George Tabori in Wien seine Groteske "Mein Kampf", in dem er den jungen Adolf Hitler in einem Wiener Männerasyl Geborgenheit bei Schlomo Herzl finden lässt. Auch dieser Jude ist ein Heiliger in seiner unbeirrbaren Nächstenliebe, - wobei es zugleich ein makabrer Scherz ist, dass ausgerechnet er sich des künftigen Judenvernichters mütterlich annimmt. Die Mischung von abgrundtiefer Tragik mit oft trivial erscheinendem Witz ist das Kennzeichen von Taboris Werk, das natürlich auch Vorwürfe provozierte: Hier treibt einer mit Entsetzen Scherz! Aber dagegen wehrte sich George Tabori entschieden.
    "Erstens finde ich Lachen nicht unbedingt etwas frivoles, überhaupt nicht. Es ist ebenso existenziell und befreiend wie Weinen. Es geht ja eigentlich für mich um das Wesen des Witzes. Der Inhalt jedes Witzes ist eine Katastrophe. Wenn man das umdreht und fragt: Wie geht man mit einer Katastrophe um, ob das persönlich oder geschichtlich ist? Dass man es in einen Witz verwandelt, finde ich erstens legitim, zweitens – wie Luther sagte – ich kann nicht anders. Irgendwann in diesen Stücken hört der Scherz auf."
    George Tabori arbeitete unermüdlich als Regisseur und Bühnenautor, die letzten Jahre am Berliner Ensemble. Am 23. Juli 2007 starb der große Theatermann, der sich selbst als "Playmaker", als Spielmacher, verstand, im Alter von 93 Jahren.
    Wie Taboris Witz zu verstehen ist, sagt wohl am deutlichsten das Motto, das er seinem Stück "Mein Kampf" vorangestellt hat: Es ist ein Zitat von Friedrich Hölderlin:
    "Immer spielt ihr und scherzt? ihr müsst! O Freunde! Mir geht dies
    In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur."
    Neuerscheinungen zum 100. Geburtstag:

    George Tabori: "Autodafé und Exodus. Erinnerungen", Verlag Klaus Wagenbach 2014, 160 Seiten, 19,90 Euro
    Werkausgabe im Steidl Verlag

    George Tabori: "Romane", Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Wend Kässens. Aus dem Englischen von Ursula Grützmacher-Tabori. Band 1: "Das Opfer", Band 2: "Gefährten zur linken Hand", Band 3: "Ein guter Mord", Band 4: "Tod in Port Aarif", 68 Euro.

    George Tabori: "Theater", Herausgegeben von Maria Sommer und Jan Strümpel. Aus dem Englischen von Ursula Grützmacher-Tabori u.a.. Mit einem Vorwort von Peter von Becker. Band 1 Frühjahr 2014, 49,80 Euro (Band 2 Herbst 2014).