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Georges-Arthur Goldschmidt: "Der versperrte Weg"
Der verlorene Bruder

Der 93-jährige Georges-Arthur Goldschmidt erzählt zum ersten Mal die Geschichte seines älteren Bruders. Mit ihm teilte er das Schicksal der Emigration, und doch hätten ihre Leben nicht unterschiedlicher verlaufen können. Damit schließt er die Leerstelle seiner Autobiographie "Über die Flüsse".

Von Ulrich Rüdenauer | 22.07.2021
Georges-Arthur Goldschmidt: „Der versperrte Weg. Roman des Bruders“
Geinsames Schicksal und doch getrennte Wege - die Brüder Goldschmidt (Buchcover: Wallstein Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
Nur selten gibt es jenen einen Moment, der alles verändert. Mit dem sich ein unüberwindlicher Graben auftut, durch den das Vorher vom Nachher ein für alle Mal geschieden ist. Für Erich und Jürgen-Arthur Goldschmidt gab es einen solchen Tag. Mit ihm, dem 18. Mai 1938, endete ein Leben und ein neues begann. Das Datum markiert eine Katastrophe.
Von diesem Schicksalstag, der alles Vorangegangene und alles Folgende überschattete, schreibt der als Jürgen-Arthur geborene Georges-Arthur Goldschmidt seit vielen Jahrzehnten: Am 18. Mai 1938 schicken die Eltern ihre zwei Söhne – zehn und 14 Jahre alt – nach Italien zu einer Verwandten. Als die Situation dort zu gefährlich wird, finden sie Zuflucht in Frankreich. In einem katholischen Internat und anderen Verstecken überleben sie die Jagd, die auf solche wie sie gemacht wird – auf Kinder jüdischer Abstammung.
Die Erzählungen Goldschmidts, die Autobiographie "Über die Flüsse" umkreisen die Jahre der Flucht und des Ankommens in Frankreich immer wieder aufs Neue. Aber es gibt in ihnen einen blinden Fleck, eine sichtbare Leerstelle. Der ältere Bruder Erich nämlich wird zwar an der ein oder anderen Stelle in Goldschmidts Büchern erwähnt, bleibt jedoch eine Randfigur, schemenhaft. Und verschwindet irgendwann gänzlich aus den Erinnerungen des deutsch-französischen Autors. Auf Anregung seines Verlegers kehrt der 93-Jährige nun in seinem jüngsten Buch "Der versperrte Weg" noch einmal in die Vergangenheit zurück und versucht die Frage zu beantworten, was aus diesem Bruder geworden sei.
"Es war eine aufwühlende, bis dahin sorgfältig vermiedene Frage: vielleicht, weil man sich, alleine durch die Tatsache, dass man noch da war, lebensschuldig fühlte."

Der evangelische Jude

Lebensschuldig fühlte sich auch Erich. Er ist vier, als Jürgen-Arthur 1928 geboren wird. Seine Prinzenrolle im bürgerlichen Haus der Goldschmidts in Reinbek gerät in Gefahr. Die beiden sind vollkommen unterschiedliche Wesen.
"Alles trennte die (…) Brüder voneinander, der ältere war besonnen, vernünftig, aber empfand alles viel tiefer und eindringlicher als der entweder begeisterte oder untröstliche Jürgen-Arthur."
Für Erich ist es eine unbegreifliche Demütigung, als er – "der evangelische Jude" – nicht mehr das Gymnasium besuchen darf. Als ihm auf der Straße antisemitische Beschimpfungen nachgerufen werden.
"Alles Deutsche war Lebensinhalt für ihn."
Und alles Deutsche kehrt sich gegen ihn. Die Eltern treffen die besonnene Entscheidung, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Nicht ahnend, dass Italien und dann Frankreich bald keine sicheren Orte mehr sein würden. Zur Angst vor Entdeckung kommt bei Erich das Gefühl, innerlich zerrissen zu sein: Ein Deutscher, der von Deutschen verfolgt wird; ein Jude, der bislang nicht einmal wusste, einer zu sein. Gestrandet in einem Land, das ihn rettet und dem er nun etwas schuldig ist.

Von der Résistance in die Fremdenlegion

Erich, mittlerweile achtzehn, schließt sich der Résistance an, zeigt Mut. Er überlebt den Krieg. Aber sein Leben bleibt auf merkwürdige Weise unvollendet: Ein unglücklicher Umstand lässt ihn sein Heil in der Fremdenlegion suchen; er wird Offizier, ist später am Putschversuch gegen de Gaulle beteiligt. Nach seiner militärischen Laufbahn wird er Bankkassierer bei der Crédit Agricole.
"Er wurde sein Leben lang von den Ereignissen fortgetragen, in fast absichtlicher Passivität. War der Rahmen einmal gefunden, war er die eigene Geschichte los und konnte sich ganz dem Ausblenden der historischen Tatsachen überlassen. Im Leerlauf weiterzuleben war für ihn vielleicht der einzige mögliche Ausweg."
Erich glaubte an Frankreich, an das Land seiner Rettung. Aber zumindest hat man bei der Lektüre von Goldschmidts Erinnerungen den Eindruck, dass er nach seiner Vertreibung aus Deutschland nirgendwo richtig heimisch werden konnte.
"Er lebte an sich selber vorbei und verdrängte jede in ihm auftauchende Idee."
Allerdings ist der Erzähler kein ganz zuverlässiger Gewährsmann. Die Brüder sehen sich nach dem Krieg nur wenige Male. Es scheint kaum Gespräche zwischen den beiden gegeben zu haben. Nicht umsonst lautet der Untertitel des schmalen Bandes "Roman des Bruders". An einer Stelle bekennt der Erzähler:
"Es ist ein sonderbares Gefühl, so nahe aneinander gelebt zu haben und so wenig vom älteren Bruder zu wissen."
Man merkt diesem Buch einen doppelten Schmerz an: Jenen, den anderen im Grunde nicht verstehen zu können – obwohl doch das gemeinsame Schicksal eine unabweisbare Verbindung schaffen müsste. Und das schmerzvolle Erkennen, nach so langer Zeit, nach achtzig Jahren, der eigenen Erinnerung nicht mehr recht trauen zu können. Das Dasein in der Diaspora hinterlässt Wunden. Die Geschichte ist gewalttätig und zugleich unbestimmt, sie reißt einen mit sich mit, und dem Juden insbesondere bürdet sie Verfolgung auf, die ständige Drohung, vernichtet zu werden.
"Alle Menschen waren zur Unsicherheit verurteilt, aber die Seinigen von Geburt an, nur weil es sie gab."

Eine Heimat in der Sprache

Es sind die vier Jahre, die Jürgen-Arthur von Erich trennen und die ihn vielleicht gerettet, zu einem anderen Leben erweckt haben: Er, der Jüngere, hat sich nicht nur den Schlägen im Internat ergeben, lustvoll, wie er immer wieder schreibt; er hat sich auch in der Literatur und der schönen fremden Sprache eine Heimat gesucht, er hat in ihr ein neues Denken gelernt; sie ließ ihn atmen und zu sich kommen. Der ältere Bruder aber stand mehr als der jüngere zwischen dem Unverstandenen:
Zwischen seinem Land, das ihn vertrieben hat, und dem neuen, in dem er doch ein Deutscher blieb. Zwischen Beklommenheit und Stolz. Zwischen seinem Empfinden und dem, was ihm von außen zu empfinden auferlegt wurde. Zwischen dem Protestantismus, mit dem er aufwuchs, und dem Judentum, das ihn einholte. Versperrt war der Weg in beide Richtungen, in die Vergangenheit wie in die Zukunft. Der "Roman des Bruders" ist ein beklemmendes Buch über einen Verstoßenen. Und der grandiose Epilog zu Georges-Arthur Goldschmidts imposantem Lebenswerk.
Georges-Arthur Goldschmidt: "Der versperrte Weg. Roman des Bruders"
Wallstein Verlag, Göttingen. 112 Seiten, 20 Euro.