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Georges Berthoin: Analyse der gegenwärtigen EU-Krise

Man könne mit diesem "widersprüchlichen Europa" nicht weitermachen, sagt Georges Berthoin. Der ehemalige Wegebner der EU kritisiert Regierungen, die über Austerität und Schuldenmachen streiten und die EU-Kommission, die kein Gegengewicht zum Rat der Regierungschefs bilde.

Von Ursula Welter | 17.04.2013
    "Eine Krise kann ausarten, in Massenproteste, in Krieg. Es gibt in Europa derzeit Zonen größter Spannung, des gegenseitigen Unverständnisses, die alten Parolen kehren zurück - aber das ist es nicht nur, warum Europa vorangebracht werden muss, es geht um alle Zukunftsfragen, die ganze Welt entwickelt sich, und Europa ist schwach, weil die zwischenstaatliche Methode es spaltet."

    Der betagte Herr in seinem Pariser Appartement argumentiert stark. Er hat die Welt gesehen, diplomatisch und politisch gewirkt von China bis Afrika. Seine Analyse des aktuellen Europa ist schonungslos: Institutionen und Posten ohne demokratische Legitimierung mangelt, ein Spitzenpersonal, das ausgewählt wurde, weil es den Regierenden nicht in die Quere kommt. Das sagt der Mann, der dieses Europa vor 60 Jahren mitkonstruiert hat:

    "Ich will keine Katastrophe an die Wand malen. Aber: Wenn Sie sich in allen Ländern die nationalistischen Reaktionen ansehen, dann ist klar: Wenn es ökonomische und soziale Probleme dieses Ausmaßes gibt, sucht man sich das System aus, von dem man Arbeit erhofft und selbst wenn alte Uniformen wieder auftauchen, wird das am Ende akzeptiert, weil die Leute glauben, keine andere Hoffnung zu haben."

    Auf Europa setzen die Menschen ihre Hoffnung derzeit nicht. Für Georges Berthoin geht es jedoch nicht darum, ob die Wahlbeteiligung 2014 hoch oder niedrig sein wird.

    "Wenn wir so weiter machen, wird das System zusammenbrechen."

    Warnt Monnets Mitarbeiter von einst:

    "Und was ich sage, sage ich nicht als alter Veteran, der von früher spricht, sondern als einer der 10, 20, 30 Jahre vorausschauen kann. Aber ich weiß: Die nahezu tödliche Bedrohung, das ist eine Frage von Monaten , nicht von zehn Jahren."

    Ein friedliches Volk wie die Portugiesen, die Niederländer, die Iren, Griechen, Spanier, vielleicht bald die Franzosen - alle seien in Anspannung, konstatiert Berthoin. Für einen Funkensprung brauche es wenig. Wie 1913, als auch niemand einen Krieg gewollt habe:

    "Es genügt heute, 30 Leute im Fernsehen zu zeigen, die ein Volk im Aufruhr darstellen, und schon ist die Ansteckung dar."

    Regierungen, die über Austerität hier und Schuldenmachen dort streiten, eine EU-Kommission, die kein Gegengewicht bildet zum Rat der Regierungschefs , ein Parlament mit großartiger Debattenkultur , aber ebenfalls zu schwach, um die Probleme zu lösen.

    "Wir können mit diesem widersprüchlichen Europa nicht so weitermachen. Wir haben Macht auf die europäische Ebene übertragen, aber wir haben dort in Europa nicht das geschaffen, was wir auf nationaler Ebene hatten. Das heißt. Wir haben ein Stück Demokratie in den Ländern verloren, ohne dafür in Europa einen Ausgleich zu schaffen. Das sehen wir am Euro, gemeinsames Geld, aber keine Wirtschaftsregierung."

    Ein teils absurdes System stellt Berthoin fest.
    "Entscheidungen wie im Fall Zypern. Einen Kontinent kann man aber nicht mit einem teilweise absurden System führen."

    Nationale Regierungen versuchen, das jeweils Beste für sich herauszuholen, auf der Strecke bleibt Europa. Das ist für Georges Berthoin das Grundproblem und der Kern der Krise. Intergouvernemental versus gemeinschaftlich, Regierungsegoismen gegen Europa-Sinn.

    "Das System zwingt die Regierung, das nationale Interesse zu verteidigen, dafür sind sie gewählt und es gibt darüber keine Autorität, die das Gemeinschaftsinteresse verteidigt !."

    Beschlüsse würden nicht mehr als Gemeinschaftsbeschlüsse wahrgenommen, auch deshalb zeigten jetzt viele mit dem Finger auf Deutschland, konstatiert Berthoin.

    Durch die hohen Fenster fällt fahles Licht , manchmal läutet das Telefon auf dem Schreibtisch, die Internet-Box leuchtet, technisch ist der fast 88jährige Berthoin bestens ausgestattet. Der einstige Mitstreiter Monnets und enge Freund Robert Schumans ist kein Mann von gestern , und er wird nicht müde, die Lage zu analysieren, die er für sehr ernst hält.

    "Als wir begonnen haben, haben wir nach unserem gemeinsamen Interesse gesucht. Wenn Sie das tun, bewahren Sie ihre nationale Souveränität, aber sie merken, dass ihnen das gemeinsame Interesse einen Vorteil verschafft."

    Nichts anderes war die Montanunion.

    "Wir haben das Wort" Gemeinschaft" nicht zufällig gewählt. Man fühlt sich als Mitglied derselben Familie."

    Es fehle an der Autorität, die dieses Familiengefühl wieder herstellen könne.

    "Als wir das gemeinschaftliche Europa geschaffen haben, haben wir einen Raum gemeinsamer Hoffnung geschaffen."

    Georges Berthoin lehnt sich nicht in seinem Sessel zurück, um in Erinnerungen zu schwelgen.
    Vielmehr streckt er sich eher, ganz Optimist, und zeichnet den Weg auf, den er gehen würde, wenn man ihn fragte.

    Georges Berthoin: Rückblick auf die Gründung der EU (Teil 1)