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Georgien
Die starken Türme von Ushguli

Das Dorf Ushguli in Georgien ist das am höchsten gelegene Europas. Seine markanten Wohntürme aus dem 10. Jahrhundert gehören seit 1996 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Trotzdem gibt es keinen nennenswerten Tourismus in der Gegend, die Einwohner Ushgulis sind arm.

Von Mirko Schwanitz | 19.01.2014
    Ushguli, das am höchsten gelegene Dorf Europas
    Ushguli, das am höchsten gelegene Dorf Europas (dpa/picture alliance/Thomas Schulze)
    Laut rauscht der Enguri am Ortseingang von Ushguli. Steil und gleißend drängt sich Georgiens höchster Berg ins Blickfeld - der 5000 Meter hohe Schara.
    Auf einer Anhöhe steht ein Kirchlein. Es schaut herab auf eine Talsenke, in die sich gemauerte Häuser ducken. In den engen Gassen sieht man Schweine, Kühe und Ziegen. Ringsum schmale Felder, auf denen Bauern sich noch hinter Holzpflügen mühen.
    Erst allmählich beginnt sich das archaische Bild zu ändern. Der Tourismus soll Einzug halten in das 2400 Meter hoch gelegene mittelalterliche Wehrdorf.
    Unweit des Kirchleins treffe ich Temraz Nigaradse, 61 Jahre alt. Gerade richtet er in seinem Haus ein paar Fremdenzimmer mit Innentoiletten ein. Für viele in Ushguli ein Traum.
    "Eines der größten Probleme hier sind die geringen Einkommen. Umgerechnet hat hier kaum einer ein höheres Monatseinkommen als 100 Euro. Die Bewohner von Ushguli gehören zu den ärmsten Einwohnern des Landes."
    Seit 1996 Weltkulturerbe
    Die meisten hier leben von dem, was die Euter der Tiere und die kleinen Gärten hergeben, erzählt uns die 70-jährige Lia Ratiani, die gerade eine ihrer Kühe melkt.
    "Es ist schwer hier. Bei euch im Westen ist das alles mechanisiert. Ich bin schon 70 und mache alles mit der Hand. Die Enkelinnen wollen es nicht lernen. Sie wollen nicht im Dorf bleiben. "
    Dabei könnte ein sanfter Tourismus den Jugendlichen von Ushguli tatsächlich eine Zukunft bieten. Denn ihr Dorf ist berühmt, seit 1996 sogar Weltkulturerbe der UNESCO. Und das hat mit jenen kastellartigen Wohntürmen zu tun, die sich wie drohende Zeigefinger neben vielen Gehöften in den swanischen Himmel recken. Die Familie Ratiani besitzt drei dieser Ungetüme.
    "Dieser Turm hier stammt aus dem 10. Jahrhundert. Seitdem ist er im Besitz meiner Familie. Das wissen wir von unseren Großvätern, die dieses Wissen von Generation zu Generation weitergaben."
    Dass die Familie heute noch drei Türme besitze, erklärt uns Lias Sohn, Dato Ratiani, zeuge davon, dass sie einst zu den mächtigsten Sippen der Gegend gehörte.
    "Bei Kriegen zwischen zwei Dörfern oder Sippen, zog man sich in diese Türme zurück und verteidigte sich, in dem man von oben zum Beispiel Steine auf seine Gegner warf."
    Starke Türme als Schutz vor Naturkatastrophen
    Schon der griechische Philosoph und Feldherr Xenophon schrieb über diese Türme. Damals, 400 Jahre vor Christi, waren die mehrstöckigen Türme allerdings noch aus Holz.
    Die Türme boten Schutz vor Naturkatastrophen. Wenn Lawinen die Dörfer verschütteten, ragten die obersten Stockwerke noch immer aus dem Schnee. Seit dem 10. Jahrhundert konnte kein noch so starkes Erdbeben den Türmen etwas anhaben.
    Das Geheimnis der Türme ist bis heute nicht endgültig entschlüsselt. Möglicherweise liegt es in einer mathematischen Formel: Die Gesamtlänge der Grundseiten, also rund 30 Meter, entspricht meist der Höhe der Türme. Und obwohl sie sich nach oben verjüngen, liegen die Ecken des Fundaments auf einer Linie mit den Ecken des auf die Verjüngung aufgesetzten vierten Stockwerkes.
    Kein Geld für Restaurierung
    "In Ushguli stehen heute gerade noch 30 Türme. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es noch 100. Von unserer Familie sind nur drei Türme erhalten geblieben."
    Dass seine Türme zum Weltkulturerbe gehören, macht Dato stolz. Doch ihr Verfall macht ihm Sorgen, denn er hat nicht das Geld, sie zu restaurieren. Wenn nicht bald etwas geschieht, werden in Georgien schon bald nur noch wenige Türme an dieses kulturhistorische Erbe der Menschheit erinnern, meint Dato, bevor er beim Abschied das Tor zum Turm wieder schließt.