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Geplauder über ein Jahrhundert Politik

Der Historiker Fritz Stern und der frühere Außenminister und Grünen-Spitzenpolitiker Joschka Fischer diskutieren - und auf gut 200 Seiten ist ein lesenswertes Protokoll ihres Gesprächs entstanden.

Von Stefan Maas | 18.02.2013
    Gut, dass wir darüber gesprochen haben. Mag so mancher denken, dessen Austausch mit Gleichgesinnten anschließend in gedruckter Form in den Buchhandlungen landet. Und davon gibt es dieser Tage einige. Der Leser hingegen denkt sich nicht selten, wäre es doch bei dem Gespräch geblieben. Denn oft ist es nur ein Aufguss dessen, was zuvor schon in anderen Büchern der Gesprächspartner zu lesen war. Sowohl Joschka Fischer, von 1998 bis 2005 der bislang einzige grüne Außenminister Deutschlands und Vizekanzler der Schröder-Regierung, als auch der Historiker Fritz Stern, der mit seiner jüdischen Familie vor den Nazis in die USA floh, haben publizistisch einiges vorzuweisen. Sachbücher und Memoiren.

    Im vergangenen Jahr haben auch sie sich getroffen, um über Geschichte und Politik zu sprechen – in diesem Fall lesenswert, um das gleich vorweg zu sagen. Bei dem Gespräch habe ihn überrascht, erzählt Joschka Fischer,

    "wie unterschiedlich doch die beiden Generationen sind durch die jeweils andere historische Prägung. Fritz Stern gehört zu der Nachkriegsgeneration nach dem Ersten Weltkrieg und ich zur Nachkriegsgeneration nach dem Zweiten Weltkrieg."

    Auf gut 200 Seiten spannen die beiden den großen Bogen von der Weimarer Republik über die 68er, über Rot-Grün bis zur Wiederwahl Barak Obamas und der Zukunft des Westens.

    Das Gespräch ist ähnlich angelegt, wie das zwischen Helmut Schmidt und Fritz Stern, das 2010 im selben Verlag veröffentlicht wurde. Der Titel lautet "Unser Jahrhundert". Ein Bestseller. Was also lag näher, als das Erfolgsrezept mit einem anderen Partner fortzuführen. Erwartungsgemäß wiederholen sich auch die Themen: der Weg ins Dritte Reich, Weltkrieg, Wiederaufbau, Wiedervereinigung, die Rolle Deutschlands in Europa, die Euro-Krise, der Umgang mit Israel und der Nahostkonflikt, um die groben Überschneidungen zu benennen.

    Es ist leicht, sich beim Lesen vorzustellen wie Fischer und Stern einander siezend und von gegenseitiger Zuneigung getragen, losplaudern.

    Joschka Fischer: "Wenn Angela Merkel übermorgen nicht wiedergewählt wird, was wird dann von ihr bleiben?"
    Fritz Stern: "Zunächst einmal eine überragende Leistung, Ostdeutsche, Frau, von der Ausbildung her Physikerin. Und sie hat sich durchgesetzt – und wie! Aber es ist viel zu früh, Bilanz zu ziehen."
    Joschka Fischer: "Da spricht die Weisheit des Historikers und nicht die kurze Sicht des Politikers im Getümmel."

    Genau darin liegt eine der kleinen Schwächen dieses Buches. Es ist das gepflegte Gespräch zweier gebildeter älterer Herren, die sich überwiegend einig sind, wenn es um die großen Fragen von Geschichte und Politik geht. Sekundieren dem anderen, werfen dem Gegenüber jene Stichworte zu, die das Gespräch meist reibungslos weitertragen. Es sind aber besonders die wenigen kleinen Meinungsunterschiede, die kritischen Nachfragen – vor allem vonseiten Sterns - oder die kleinen Sticheleien, die dem Gespräch Frische geben, einen überraschenden Richtungswechsel ermöglichen. Etwa, als es um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit des Auswärtigen Amtes und vieler seiner langjährigen Mitarbeiter geht, die der damalige grüne Außenminister voller Elan vorantrieb:

    Fritz Stern: "Die Institution, die für viele seit Generationen ein wichtiger Bezugspunkt ihrer sozialen Orientierung war, stand plötzlich unter Generalverdacht. Ich glaube, Ehre ist das entscheidende Stichwort in diesem Zusammenhang ..."
    Joschka Fischer: "Bei einem Angehörigen der SS komme man mir nicht mit der Ehre."
    Fritz Stern: "Und dann natürlich die Tatsache, dass an der Spitze des Ministeriums ein Mann stand, der sich seiner eigenen Vergangenheit, wenn ich so sagen darf, nicht gestellt hat."
    Joschka Fischer: "Ich war nicht in der SS."
    Fritz Stern: "Aber Sie haben Steine geworfen."

    Natürlich sind die Einschätzung des Nahostkonflikts und die Beobachtungen zum Umgang mit Israel klug – immerhin diskutieren ein Historiker und ein ehemaliger Außenminister. Aber neu sind sie nicht. Natürlich mag es stimmen, wenn die beiden eine Entpolitisierung der Gesellschaft beklagen, die Entideologisierung der Politik – zumindest in Europa das Fehlen von Führungspersönlichkeiten. Neu sind auch diese Analysen nicht. Man mag die Einschätzungen Fischers und Sterns teilen - oder eben auch nicht. Thematisch sind sie Mainstream. Es sind die persönlichen Anekdoten, die zum Titel "Gegen den Strom" passen.

    Joschka Fischer: "Ich habe meine Irrtümer in meinem politischen Leben hinter mich gebracht. Die 70er-Jahre, die Verführung durch die Gewalt, einer der schlimmsten Fehler, die ich gemacht habe. Zu unterschätzen, welche Bedeutung das Recht hat."

    Oder wenn Fritz Stern von seiner Freundschaft mit dem Beat-Generation-Dichter Allen Ginsberg erzählt, von einer öffentlichen Geste der Unterstützung Ginsbergs für ihn, 1968, zu einer Zeit als Stern vielen seiner Studenten als "reaktionärer Faschist" verdächtig war. Oder Fischers Erfahrungen mit dem Thema Autorität:

    "Ich habe dann eine Fotografenlehre begonnen. Inzwischen hatte ich allerdings ein Problem mit der Autorität. Und eines Morgens um acht Uhr begann die Arbeit – um 08:05 Uhr war sie beendet, und zwar dauerhaft. Der Chef raunzte mich an. Und da habe ich ihm gesagt: Entschuldigung, er könne mich mal, habe die Tür hinter mir zugeknallt und bin gegangen."

    Der Leser ertappt sich an dieser Stelle bei dem Gedanken: Mit Verlaub, so also hat sich die Generalprobe für jenen berühmten Satz abgespielt, der 1984 im Deutschen Bundestag fiel. Beide Gesprächspartner erzählen zwar viel von sich, es gelingt aber besonders Fritz Stern, seinem Gegenüber Persönliches zu entlocken. Ihn dazu zu bewegen, klar zu sagen, was der Leser in Fischers Büchern sonst nur zwischen den Zeilen lesen kann, beim Thema persönliche Macht, zum Beispiel:

    Stern: "In Vorbereitung auf unsere Gespräche habe ich die beiden Bände ihrer Erinnerungen gelesen. Und da fiel mir auf, dass sie sehr häufig die Begriffe Vizekanzler oder stellvertretender Ministerpräsident benutzen, statt Außenminister oder Umweltminister zu schreiben. Das Wort Vize scheint ihnen sehr wichtig zu sein."
    Joschka Fischer: "Über Politik zu sprechen, ohne über Macht zu sprechen, das heißt, an den Storch zu glauben, der die Kinder bringt."

    Auch deshalb kommt der Leser am Ende des Buchs zu dem Schluss:
    Gut, dass die beiden darüber gesprochen haben.

    Buchinfos:
    Fischer, Joschka/Stern, Fritz: "Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik", C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-64553-2, 224 Seiten, Preis: 19,95 Euro
    Der Historiker Fritz Stern
    Der Historiker Fritz Stern (AP Archiv)