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Gerald Murnane: "Grenzbezirke"
Geistige Bilderwelten

Lange Zeit hat man den Schriftsteller Gerald Murnane in seinem Heimatland Australien kaum wahrgenommen. Mittlerweile aber ist man stolz auf den als Nobelpreiskandidat gehandelten Landsmann. Nun erscheint das zweite Buch des sperrigen, in Europa noch fast unbekannten Autors auf Deutsch.

Von Dorothea Dieckmann | 15.02.2019
    Buchcover: Gerald Murnane: „Grenzbezirke“
    Murnanes Prosa - eine Schule der Wahrnehmung und des Lichts (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: Gerda Bergs)
    Was ist Wirklichkeit? Heutzutage ist das realistische Erzählen ebenso beliebt wie im 19. Jahrhundert, auch wenn Konzepte wie "Postmoderne" oder "Autoreferentialität" die Skepsis der Moderne gegen die Literatur als Illusionsfabrik weiterführen. Das Werk des Australiers Gerald Murnane braucht kein theoretisches Label, um die Beschränkungen des literarischen Realismus zu unterlaufen. Sein wundersames Buch "Die Ebenen" besaß noch das, was man einen Plot und einen Helden nennen mag. "Grenzbezirke" verzichtet nun auch auf diese Muster. Das Original trägt die Gattungsbezeichnung "A fiction". Diese erweist sich jedoch schon bald als verschmitzte Irreführung, wenn der Erzähler festhält:
    "... dass dies ein Bericht über wirkliche Ereignisse ist und nicht eine Art fiktionales Werk. Wie ich die Sache verstehe, erzählt der Verfasser fiktionaler Werke von Ereignissen, die er oder sie als erfunden betrachtet. Der Leser des fiktionalen Werks hingegen betrachtet die Ereignisse als wirklich oder tut so, als täte er dies. Dieses Prosastück ist ein Bericht einzig über wirkliche Ereignisse, auch wenn viele der berichteten Ereignisse einem unbedarften Leser als fiktional erscheinen mögen."
    Obsessionen eines Exzentrikers
    Ein Blick auf das, was Murnane selbst den "atmenden Autor" nennt, erklärt das scheinbare Paradox. Äußerlich führt Gerald Murnane ein exzentrisch einfaches Leben. Vor zehn Jahren hat er sich in ein Dorf im Bundesstaat Victoria zurückgezogen, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat. Murnane hasst Reisen, ist nie mit einem Flugzeug geflogen und hegt eine notorische Abneigung gegen das Meer. Sein Dasein spiegelt sich in einem häuslichen Archiv mit Aufzeichnungen, die den Stoff für Tausende Erzählungen enthalten. Als junger Mann besuchte er ein Priesterseminar, verlor jedoch früh seinen Glauben. Durchaus religiös ist dagegen seine Obsession für Pferderennen. Er hat ein diesem Sport gewidmetes Inselreich inklusive Landkarten und Nationalhymne entworfen, mit fiktiven Tabellen, Rennbahnen, Pferden, Farben, Jockeys und Trainern. Ein solches Land breitet sich im Innern des Ich-Erzählers aus, als er zu meditieren versucht:
    "Mir gelang es nie, meinen Geist zu leeren. (...) Und wenn ich (...) den schwachen Schimmer einer scheinbaren Leere sah (...), dann wurde mir wieder bewusst, dass ein Rassepferd nach dem anderen (...) in den Vororten selbiger Stadt trainierte; auf einer ganzen Reihe weiter entfernter Rennbahnen, doch immer noch innerhalb des Bereichs meines geistigen Sehens (...) Ich sah Pferde auf (...) Rennbahnen, die ich nur von Abbildungen in Büchern kannte (...). Ich war nie über meinen Heimatstaat hinaus gereist und sogar selten über meine Heimatstadt hinaus, und doch war das äußerste Gebiet meiner Vorstellung ein riesiger Bezirk von Bild-Rennbahnen, die zumeist auf Bildern von Orten beruhten, die ich nie gesehen hatte."
    Innere Bildwelten
    Wie hier dem Thema Pferderennen, so begegnet der Leser in den "Grenzbezirken" allenthalben der Erfahrungswelt des Autors. Murnanes Schreiben handelt von erlebten Tatsachen und ist zugleich ein Tribut an den Umstand, dass Vorstellungen und Phantasien ihrerseits reale Vorgänge sind.
    In einem Interview erklärt Murnane, der einzige Gegenstand seines Schreibens sei die "geistige Bildwelt". So lautet auch im Buch das unvermeidlich abstrakte deutsche Wort für den englischen Ausdruck "mental imagery". In einer Mischung aus Tagebuch, Erzählung und Reflexion schildern die "Grenzbezirke", wie diese innere Bildergalerie entsteht und sich zu Bildern von Bildern vervielfältigt.
    Es beginnt mit der Entdeckung einer kleinen Kirche. Sie erinnert den Erzähler an seine religiöse Vergangenheit; ihre farbigen Fenster – eins von Murnanes Leitmotiven – legen nahe, dass religiöse Andacht und poetische Imagination dieselbe Quelle haben. Rhizomartig wie die Bilder, von denen sie handelt, pflanzt sich die Erzählung fort. Bildträger wie Fotografien und Gemälde; die Glasmurmeln, Kaleidoskope, Wasserfarben und Buntstifte der Kindheit; Lektüren; die Landkarten und Namen nie gesehener Regionen – all das begründet eine Schule der Wahrnehmung und des Lichts. Dabei haben vergangene und gegenwärtige Ereignisse denselben Stellenwert wie die sogenannten Bild-Ereignisse, in denen der Erzähler das Erlebte weiterspinnt. Er versetzt sich etwa in die Lage der alten ledigen Tante eines Freundes, stellt sich ihren Heirats- und Kinderwunsch vor, erfindet ihr eine Tochter und fährt fort:
    "In einem der vielen möglichen Leben, die ich geführt haben könnte, trafen wir uns, die Tochter und ich, als junge Menschen und begannen, einander Gesellschaft zu leisten. Zu den vielen Dingen, über die wir uns gern unterhielten, gehörten die eisigen Morgenstunden und die heißen Nachmittage, wenn wir beide das Lesebuch nach den paar Passagen durchstöberten, die unsere Gedanken von dem ungastlichen Klassenzimmer abbringen konnten (...). Sie war erfreut zu hören, dass ich gleichfalls das Gedicht gelesen (...) hatte, das die Gedanken und Einbildungen des Dichters aufzeichnet, während er abends auf einem Landfriedhof stand und über die möglichen Leben grübelte, die von den Menschen, deren Überreste nahebei begraben waren, geführt worden sein mochten."
    Universum der Möglichkeiten
    Wirklichkeit und Möglichkeit fallen zusammen, ja, die mögliche Wirklichkeit enthält als das reichere Universum unendlich viele weitere Welten. Sie ohne vorgefassten Plan zu entdecken, bedeutet für Murnane wahrhaftiges Erzählen. Wie auf einer Expedition innerhalb der Raumkoordinaten von Himmelsrichtungen und Horizonten, Grenzen und Sichtachsen öffnet er sich dem, was am Weg liegt. Und wie ein Forscher unterbricht und kommentiert er den Schreibprozess mit Einschüben wie diesem:
    "Während ich die vorigen Seiten schrieb, hörte ich manchmal auf (...), um anzufangen, über die eine oder andere besondere Sache zu schreiben, die gerade dann an der Seite meiner Vorstellung aufgetaucht war und hätte verschwinden können, wenn ich nicht sogleich darüber zu schreiben begonnen hätte (...)."
    So verspielt äußert sich ein Schreiben, das Ernst macht mit der Verweigerung literarischer Konventionen. Gerald Murnane lesend kann man einen Autor dabei beobachten, wie er das Erzählen neu erfindet.
    Gerald Murnane: "Grenzbezirke"
    aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt
    Suhrkamp Verlag, Berlin. 232 Seiten, 8 Euro.