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Gerechtigkeit, Transparenz, Würde

Auch in Marokko gehen seit Monaten Tausende auf die Straße. Die herrschende politische Klasse hat in den Augen der Demonstranten jede Glaubwürdigkeit verloren. Wer ins Hinterland fährt, begreift schnell, warum.

Von Marc Dugge | 11.06.2011
    "Ich bin heute dabei, weil in diesem Land vieles nicht richtig läuft. Es gibt keine Gerechtigkeit. Manche sagen, dass Marokko demokratischer wird – aber das stimmt nicht. Wir werden regiert von einer abgehobenen Elite, wir brauchen echte Vertreter des Volkes, eine echte Demokratie."

    Jamal ist einer von vielleicht 1000 Demonstranten in der marokkanischen Hauptstadt Rabat. Mit ihnen zusammen läuft er durch die Straßen der Altstadt und ruft die Worte "Freiheit" und "Würde". Es sind vor allem junge Menschen, die in Marokko seit Februar auf die Straße gehen. Menschen zwischen 20 und 30, gut ausgebildet - und arbeitslos. Immer wieder ist die Polizei in den vergangenen Wochen mit Gewalt gegen die Demonstranten vorgegangen. Offizielle Erklärung: Die Demos seien nicht genehmigt und eine Störung der öffentlichen Ordnung. Aba Dila kümmert das nicht. Er ist einer der Köpfe der "Reformbewegung des 20. Februar" und sagt: Versammlungsfreiheit ist ein Menschenrecht.

    "Wenn sie uns von der Straße jagen, werden wir in den Zeitungen schreiben. Wenn sie uns aus den Zeitungen verbannen, gehen wir ins Internet. Wenn das nicht mehr geht, sind wir an den Tischen in den Cafés! Wir werden immer weiter machen – friedlich. Niemals werden wir Gewalt anwenden. Wir wollen niemanden stürzen, darum geht es nicht!"

    Genau das ist der Unterschied zu Tunesien, Jemen, Syrien und Ägypten: Die Bewegung in Marokko richtet sich nicht gegen das allmächtige Staatsoberhaupt, König Mohammed VI. Er ist auch religiöser Führer des Landes und bei vielen Marokkanern beliebt. Ganz im Gegensatz zu einigen von seinen Beratern. Die Demonstranten werfen ihnen vor, ihre hohe Stellung ausnutzen, um sich hemmungslos zu bereichern. Demonstrant Hussein:

    "Wir wollen, dass dieser Machtzirkel verschwindet. Wir wollen, dass alle an den Reichtümern dieses Landes beteiligt werden – und nicht, dass einige Familien die Wirtschaft unter sich aufteilen."

    Die Bewegung fordert, dass auch der König sich aus der Wirtschaft zurückzieht, dass er das Parlament stärkt und entschiedener die Korruption bekämpft. Die Wut richtet sich nicht nur gegen jene, die ganz oben an der Spitze des Staates stehen. Sondern auch gegen Lokalpolitiker. Denn nach Überzeugung vieler Marokkaner hat die gesamte politische Klasse abgewirtschaftet.

    In einem Neubauviertel in Khenifra, einer 80.000-Einwohner-Stadt im Mittleren Atlas. Männer heben Erde aus, um einen defekten Abwasserkanal zu installieren. Seit Langem fließt das Abwasser aus der Erde, fließt in einem kleinen Rinnsal durch das Viertel. Befestigte Straßen gibt es hier kaum. So versickert das Wasser im Schlamm, dort, wo die Kinder spielen. Immer wieder sind die Kinder krank. Da die Stadt nichts unternimmt, legen die Bewohner selbst Hand an.

    Nichts hier ist in dem Viertel ordentlich geplant oder gebaut worden. Es gibt keine Zufahrten für Feuerwehr oder Krankenwagen. Stromleitungen verlaufen direkt neben oder sogar knapp über den Häusern – trotzdem haben viele keine Elektrizität. Und der Wasserkanal ist viel zu klein, sodass er bei Regen leicht überläuft und die angrenzenden Gebäude schnell überflutet werden. Die Schlamperei hat ihren Grund, sagt Bewohner Hassan:

    "Man gibt ein Budget bekannt, um ein Viertel zu bauen. 200 Millionen Dirham für die Infrastruktur. Aber die Verantwortlichen wollen einen Teil des Geldes für sich abbekommen. Für 100 Millionen wird die Straße gebaut, den Rest teilen die Verantwortlichen unter sich auf. So wird das ganze Viertel nie fertig gebaut."

    Aber nicht alle müssen hier mit Schlamm und Kerzenlicht leben. Es gibt auch jene, die einen befestigten Gehsteig haben – und einen Stromanschluss. Wer ein bisschen schmiert, sei besser dran in diesem Viertel, sagt Abdelhassen Belhassen von der Bürgerrechtsbewegung AMDH. Und: Wer auf dem Wahlzettel das Kreuzchen an der richtigen Stelle mache.

    "Du hast für den Politiker gestimmt – und ich gegen ihn. Wenn der Politiker nun ein Amt bekommt, wird er all die bestrafen, die nicht für ihn gestimmt haben. Also nicht Dich, sondern mich. Das ist immer so. Wenn Du für den anderen bist, bin ich gegen Dich."

    Die Welt ist klein in Khenifra. Man kennt sich, weiß, wer hinter einem steht. Und ansonsten helfen Politiker bei den Wahlen auch mit etwas Kleingeld nach. 100 Dirham, also rund 10 Euro soll es pro Kreuzchen geben. Für einige arme Bewohner des Viertels ist das eine ganze Menge Geld. Bewohner Muhammad ist frustriert:

    "Wenn die Wahlen kommen, gibt's an den Parteiständen immer Gegrilltes und Tee. Es gibt viele Versprechen, Du wählst für sie und Du siehst sie bis 2012 nie wieder. Und es sind immer die gleichen Gesichter."

    Die Bürgerrechtsbewegung AMDH hat seit Anfang des Jahres viele neue Mitglieder gewonnen. Sie trauen sich auf die Straße, trauen sich zu protestieren. Es geht um Gerechtigkeit, Transparenz, Würde. Das sind die Schlagworte der Bewegung des 20. Februar. Eine Bewegung, die auf Facebook begonnen und nun das ganze Land erfasst hat. Abdelhouahad Bougriane von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Marokko:

    "Das nationale Fernsehen lädt Menschen in Sendungen ein, die früher nicht damit rechnen konnten, jemals auf den Bildschirm zu kommen. Auch die Schriftpresse und Internetzeitungen berichten freier. Das wird einer Entwicklung zu mehr Demokratie helfen."

    Für die Reformbewegung ist nun das Wichtigste, den Druck aufrechtzuerhalten und die Menschen weiterhin auf die Straße zu bekommen. Keine einfache Aufgabe, denn viele Marokkaner sehen mit Sorge, was in Tunesien und Ägypten passiert. In beiden Ländern ist die Wirtschaft eingebrochen, beide stehen vor einer ungewissen politischen Zukunft. Viele Marokkaner fürchten den Unfrieden, fürchten um ihre Jobs, wollen ihre Ruhe. Und schon bald kommt die Ferienzeit und der Fastenmonat Ramadan. Das ist Gift für einen Reformer wie Aba Dila. Und doch ist er gelassen:

    "Dieser Monat ist wichtig – aber wir sind nicht in einem Wettlauf. Bei den Olympischen Spielen gibt es Lang- und Kurzstreckenläufe. Wir Reformer sind auf der Langstrecke. Der König ist auf der Kurzstrecke und setzt auf Geschwindigkeit. Das ist ganz was anderes."