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Geriatrie
Chancen des letzten Lebensabschnitts

Atul Gewande ist Mediziner. Er zeigt in seinem Buch "Sterblich sein - Was am Ende wirklich zählt", wie schwierig es ist, Menschen am Ende ihres Lebensweges nicht zu entmündigen. Aber auch, dass es geht, sich ernsthaft mit dem Sterben auseinanderzusetzen.

Von Dagmar Röhrlich | 16.10.2015
    Es begann mit Schmerzen im Nacken, die in den linken Arm ausstrahlten und ein Kribbeln in den Fingerspitzen des Chirurgen verursachten. Auf der Röntgenaufnahme war nichts Bedrohliches zu erkennen, nur eine Arthrose im Nacken. Über Wochen und Monate hinweg nahmen die Schmerzen jedoch zu. Die linke Hand kribbelte nicht mehr, sie war taub. Dann brachte eine Kernspintomografie die schockierende Wahrheit ans Licht, schreibt Atul Gewande in seinem neuen Buch "Sterblich sein – was am Ende wirklich zählt":
    "Die Aufnahme zeigte einen wachsenden Tumor im Rückenmark. Das war der Moment, in dem wir den Spiegel durchschritten."
    Selbst mit der Sterblichkeit konfrontiert
    Atul Gewande ist Mediziner. Und der Chirurg, über den er schreibt, war sein Vater, in dessen Leben von einer Sekunde auf die andere nichts mehr war wie zuvor.
    "Unsere Familie war nun selbst mit der Sterblichkeit konfrontiert. Die große Frage war, ob wir es (...) fertigbrachten, einen anderen Weg zu gehen als den, den ich als Arzt bisher zu gehen gewohnt war."
    Statt all' das medizinisch Machbare zu unternehmen, nur das tun, was Todkranken und Sterbenden die größtmögliche Lebensqualität bringt. Aber was bedeutet das eigentlich? Und wie groß müsste der gesellschaftliche Wandel sein, den dieser Paradigmenwechsel mit sich brächte? Der Autor beantwortet diese Fragen mit mitfühlend beschriebenen Fallbeispielen - aus der eigenen Familie, der Bekanntschaft, und von seinen Patienten:
    "Sind unsere Alten und Kranken nicht längst zu Opfern unserer Weigerung geworden, die Tatsache unserer unerbittlich endenden Lebenszeit zu akzeptieren?"
    Objekt eines rationellen Arbeitsablaufs
    Weil die besorgte Familie froh ist, ihre Alten und Kranken in Sicherheit zu wissen, kontrollieren Ärzte und Pflegekräfte die letzte Phase, in der unser Körper verfällt. Sie sind jedoch auf Krankheiten konzentriert, das Überleben. Das Individuum wird zum Objekt eines rationellen Arbeitsablaufs degradiert:
    "Das Personal von Pflegeheimen spricht anerkennend von Bewohnern, die "sich selbst behaupten" und "ihre Würde verteidigen" - bis dieselben Bewohner sich einmal energisch den Absichten des Personals entgegensetzen. Dann sind sie schnell "renitent". "
    Atul Gawande zeigt, wie schwierig es ist, Menschen am Ende ihres Lebensweges nicht zu entmündigen - aber auch, dass es geht, wenn wir damit beginnen, uns ernsthaft mit dem Sterben auseinanderzusetzen.
    Gekonnt webt Gawande in die Erzählungen über den letzten Lebensabschnitt seiner Protagonisten die Erkenntnisse der modernen Medizin ein und die schonungslose Beschreibung des körperlichen Verfalls. Vor allem aber zeigt er die Chancen, die eine moderne Geriatrie eröffnet, wenn sie sich zum Ziel setzt, den Menschen bis zum Schluss so viel Wohlbefinden wie möglich zu garantieren - und ihnen die Selbstbestimmung über ihr Leben zu lassen.
    Zielgruppe: Jeder, der lebt.
    Erkenntnisgewinn: Wir müssen unseren Umgang mit Altern und Tod grundlegend ändern.
    Spaßfaktor: Es gibt viel zu tun - packen wir es an.
    Atul Gawande "Sterblich sein - Was am Ende wirklich zählt". Es ist erschienen bei S.Fischer, hat 335 Seiten und kostet 19.99 € ISBN: 978-3100024411