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Geringe Wahlbeteiligung bei Schweizer Parlamentswahlen

Reichel: Die Schweizer – sie werden oft zur Wahlurne gebeten, denn viele politische Entscheidungen treffen die Bürger und mittlerweile auch die Bürgerinnen direkt per Volksabstimmung. Heute wählen unsere Nachbarn wieder einmal, allerdings ein neues Parlament. Knapp fünf Millionen Menschen sind aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Aber voraussichtlich wird nur die Hälfte oder sogar weniger der Aufforderung folgen. Auch 1999, bei der letzten Parlamentswahl, beteiligten sich nur 43 Prozent. Dieses geringe Interesse erscheint mit einem Blick auf die Schweizer Demokratie verständlich. Egal, welcher Partei sie ihre Stimme geben, einen deutlichen Richtungswechsel in der Politik können die Bürger damit kaum bewirken. Denn im Bundesrat, dem vom Parlament gewählten Ministergremium, sitzen seit über vierzig Jahren die Vertreter aller großen Parteien einvernehmlich zusammen. Aber Demokratie lebt doch nun einmal grade von der Beteiligung und Einflussnahme der Bürger. Ich habe Heidrum Abromeit, Professorin für Politologie an der Technischen Universität Darmstadt gefragt, ob die geringe Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen in der Schweiz ein Problem darstellt.

19.10.2003
    Abromeit: Grundsätzlich nein. Dazu eine Grundsatzbemerkung: Man muss darin ein Problem sehen erstens, wenn man Demokratie identifiziert mit einem System, in dem die Bürger Vertreter wählen und dann selbst von der politischen Bühne komplett abtreten. Und es ist zweitens ein Problem, wenn die Gewählten einen sehr großen Entscheidungsspielraum und viel Macht haben. Und wenn wir jetzt auf die Schweiz gucken, dann sehen wir erst mal, die Bürger treten mit der Nationalrats- und Ständeratswahl nicht von der politischen Bühne ab, das haben Sie ja eben erwähnt. Und zweitens, das, was sie da wählen, sind keine besonders mächtigen Akteure. Außerdem muss man bedenken, die Parteien spielen in der Schweiz eine sehr viel geringere Rolle als etwas in der deutschen Politik. Ich war vor vier Wochen noch in der Schweiz, da konnte man den beginnenden Wahlkampf, in Anführungsstrichen, beobachten. Es war keiner. Was zum Beispiel plakatiert wurde, hat nicht die Parteien, schon gar nicht die Bundesparteien herausgestellt, sondern jeweils die einzelnen Kandidaten, die von den Kantonalparteien vorgeschlagen werden.

    Reichel: Aber ich frage noch einmal nach: Die Zusammensetzung der Regierung steht bereits vor der Wahl fest. Welchen Sinn haben dann die Wahlen?

    Abromeit: Ja, welchen Sinn haben die Wahlen? Den Sinn, den sie überall haben: dem, was die Regierung tut, eine formale Legitimation zu erteilen. Hier wie in der Schweiz hat die Wahlentscheidung wenig damit zu tun, welche Politik dann tatsächlich gemacht wird. Wir entscheiden ja schon überhaupt nicht über Inhalte der Politik. Wir entscheiden über Parteiführungen, die dann Regierungschef werden wollen.

    Reichel: Wenn wir jetzt grade schon das deutsche System angesprochen haben, hier ist es doch aber so, dass die Parteien mit bestimmten politischen Zielen werben und sie dann letztendlich auch durchsetzen sollten zumindest, oder es versuchen sollten, das erwartet ja auch der Wähler.

    Abromeit: Das unterscheidet sich von der Schweiz. Ich würde allerdings das bundesrepublikanische System nicht ganz so positiv sehen, denn welche Programme werden uns präsentiert vor der Wahl? Sehr konkret sind die nicht und hinterher wird dann ja neuerdings von Wahlbetrug geredet. Aber das ist ja eine Situation, die wir seit Jahrzehnten haben, dass man a. nicht genau weiß, was auf einen zukommt und b. von dem bisschen, was man glaubt zu wissen, anschließend nichts umgesetzt wird.

    Reichel: Nun haben die Bürger in der Schweiz ja noch ein anderes Instrument, nämlich die Volksabstimmung.

    Abromeit: Ja.

    Reichel: Das heißt, wenn das Parlament etwas beschließt, können sie sagen Ja oder Nein. Aber auch bei diesen Volksabstimmungen ist ja oft die Wahlbeteiligung relativ gering. Ich bringe mal zwei Beispiele: 1998, als es um die Annahme einer neuen Verfassung ging, lag die Beteiligung bei knapp über 35 Prozent, und 2001, als die Schweizer sich gegen die Abschaffung einer Armee entschieden, stimmten gut 37 Prozent ab. Wie ist denn das zu erklären?

    Abromeit: Die Logik des fakultativen Referendums, also der Abstimmung über ein Gesetz, das das Parlament beschlossen hat, funktioniert so, dass diejenigen, die dieses Gesetz ganz besonders ärgert, zur Abstimmung gehen und die anderen bleiben zu Hause.

    Reichel: Aber fördert das nicht grade den Konservatismus in dem dann auch bestimmte Reformmöglichkeiten gar nicht mehr da sind, wenn immer so zusagend die Gruppe, die dagegen ist, sich zusammenschließen kann und dann praktisch bei der Volksabstimmung sagt, nein, wollen wir nicht.

    Abromeit: Natürlich stützt das erst mal den Status quo, das kann man schon sagen. Auf der anderen Seite sind viele Neuerungen zum Beispiel im Bereich der Umweltpolitik auch durch das Volk überhaupt auf die Tagesordnung gebracht worden, nämlich durch die Volksinitiative. Es gibt ja eben auch noch das andere Instrument. Wenn ich das noch dazu sagen darf, wir stehen vor viel größeren Finanzproblemen als die Schweiz, Haushaltsproblemen, was daran liegt, dass das Instrument der Volksabstimmung auch zu besonderer Sparsamkeit führt. Die Schweizer sind nicht nur konservativ, sie sind auch sparsam. Sie wollen nicht viele Steuern bezahlen und verzichten darum auf viele öffentliche Leistungen.

    Reichel: Meinen Sie denn, dass ein Instrument wie die Volksabstimmung auch hier in Deutschland sinnvoll wäre einzuführen? Manche fordern das ja.

    Abromeit: Da bin ich sehr skeptisch, wenn ich ehrlich sein soll. Das hat mit der Rolle der Parteien zu tun. Die Parteien, habe ich ja schon erwähnt, spielen in der Schweiz nicht die große Rolle, schon gar nicht die Bundesparteien. Und bei uns sind die Bundesparteien die entscheidenden Akteure. Die Bundesparteien sind es gewöhnt, ihre Anhängerschaft und das, was man so unter Mitte versteht, zu mobilisieren, und machen das im Prinzip auch ganz erfolgreich. Und die Wähler sind gewöhnt, sich an dem zu orientieren, was die Parteien ihnen präsentieren. Wenn bei uns auf Bundesebene vermehrt, überhaupt direkt-demokratische Elemente eingeführt würden, wäre meine Befürchtung, dass sofort die Parteien das für sich zu instrumentalisieren versuchen. Und im Land Bayern haben wir ja im Grunde das Beispiel schon vor Augen.

    Reichel: Inwiefern?

    Abromeit: Die CSU ist da recht erfolgreich, Volksabstimmungen die Spitze abzubrechen und das in ihrem Sinne zu lenken.

    Reichel: Trotzdem haben wir das Problem, dass viele Bürger unzufrieden sind, dass sie das Gefühl haben, sie geben bei der Wahl einem Abgeordneten die Stimme, der sie so zusagend repräsentieren soll,...

    Abromeit: Sie geben sie ab, und dann ist sie weg!

    Reichel: ... und dann sind sie oft mit der Politik, die gemacht, wird, unzufrieden. Wie kann man daran etwas ändern?

    Abromeit: Ich sehe nicht, wie man in unserem politischen System daran etwas ändern könnte.

    Reichel: Das heißt, wir haben uns in einer bestimmten Situation festgefahren?

    Abromeit: Wir haben uns festgefahren, die Parteien haben sich festgefahren und die Parteien sind im Grunde nicht mal schuld, dass sie sich festgefahren haben, sondern sie folgen der Logik des Parteienwettbewerbs, und das heißt, sie sind nur noch aufeinander bezogen.

    Reichel: Können Sie das erläutern, inwiefern?

    Abromeit: Vor allem die beiden großen Parteienhaben das Ziel, die Wahl zu gewinnen. Um die Wahl zu gewinnen, müssen sie eine Mehrheit haben. Die Mehrheit vermuten sie zurecht in der Mitte. Also orientieren sich beide Großparteien an dem, was sie glauben, was die Wähler in der Mitte bevorzugen. Oder sie orientieren sich gar nicht an dem, was irgendwelche Wähler bevorzugen, sondern präsentieren einfach Personen und so ein paar Schlagworte. Und nähern sich aber, weil sie ja die Mitte gewinnen wollen, aneinander an. Sie sind dann für die Wähler relativ ununterscheidbar. Der Wähler weiß im Grunde gar nicht, worin unterscheiden die sich jetzt wirklich? Damit die Wähler überhaupt noch ein Motiv haben, zur Wahl zu gehen, haben wir dann diese Spiegelfechtereien und mehr oder weniger persönlichen Angriffe, die uns in der Öffentlichkeit ja auch dann immer auf die Nerven gehen. Haben wir ja gerade vor ein paar Tagen im Bundestag erlebt.

    Reichel: Aber wenn es keinen Sinn mehr hat, sich wirklich zu entscheiden, also dann ficht das ja auch das Demokratieverständnis an.

    Abromeit: Also, meines Erachtens gehört zur Demokratie schon, dass man in Sachfragen seine Interessen, seine Präferenzen irgendwie zur Geltung bringen kann. Und das ist in unserem politischen System und in den meisten parlamentarischen Systemen nicht wirklich möglich. Aber die deutschen Wähler und deutschen Bürger sind offenbar auch nicht so engagiert und wirklich interessiert, sich einzusetzen. Ich meine, das sehe ich ja auch an der Universität. Der Informationsgrad auch der Studierenden ist ja nicht sehr hoch und in jeder Prüfung bin ich immer wieder verblüfft, dass Tagespolitik offenbar kaum wahrgenommen wird. Wenn man eine entsprechende Frage stellt, dann wird man groß angeguckt. Wenn die Bürger was anderes wollten, sollten sie es vielleicht deutlich zum Ausdruck bringen.

    Reichel: Ein Interview war das mit Heidrum Abromeit. Sie ist Professorin für Politologie an der Technischen Universität in Darmstadt.