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Germanenmythos und heidnische Bräuche

Das Volk der Germanen hat es nie gegeben, trotzdem beriefen sich die Nazis auf die vermeintlichen Vorfahren der Deutschen. Auf junge Menschen haben die Heldenmythen der Vergangenheit noch heute eine Anziehungskraft – das birgt Gefahren.

Von Franziska Rattei | 11.07.2013
    Stefanie von Schnurbein erforscht seit knapp 30 Jahren das sogenannte "Germanische Neuheidentum". Am Anfang ihrer Reise durch die zeitgenössische Heiden-Szene stand große Neugier, sagt sie; und die Einladung zu einem sogenannten "Thing" des Armanen-Ordens.

    "Ich erlebte dann, dass zu der Osteransprache nicht nur allgemein erzählt wurde, dass Ostern ein Fest der Fruchtbarkeit und der heidnischen Fruchtbarkeit ist, sondern dass der Anlass auch dazu genommen werden solle, möglichst rassereine Kinder zu zeugen und die germanische Rasse wiedererstehen zu lassen."

    Nach diesem Erlebnis beschloss die damals jugendliche Studentin, über das Neuheidentum aufzuklären und beschäftigte sich mit dem, woran die Neuheiden heute glauben. Das Problem: Es existieren keine vorchristlichen Schriften über die Weltanschauung jener Zeit. Die Armanen, genauso wie andere religiöse Gruppen, die sich nach 1945 bildeten, beziehen sich auf mittelalterliche Texte, die von nordischen Göttern erzählen.

    "Und da im Zusammenhang mit der völkischen Bewegung, die irgendwann darauf kommt: das Christentum ist doch eigentlich eine Religion, die uns "Germanen" missioniert hat, mit Gewalt uns unsere eigene Religion geraubt hat, und wir müssen eigentlich zu diesen Wurzeln einer eigenen Religion zurückkehren. Man stellt sich das eigentlich so vor, dass es eine lange Kontinuität gibt von germanischem Glauben und Leben und Kultur, an die man wieder anknüpfen will und in einer expliziten Ablehnung des Christentums, was unter anderem auch deswegen abgelehnt wird, weil es ja aus jüdischen Wurzeln stammt."

    Bis vor drei Jahren meinte Stefanie von Schnurbein, die Neuheiden vertrauten allesamt unsicheren Quellen und seien zu großen Teilen Rassisten. Dann allerdings lernte sie eine Gruppe kennen, die sich Asatru nennt und seit den 90er Jahren existiert. Viele von ihnen sind entschieden gegen rechts, und sie versuchen, ihren Glauben an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen auszurichten. In Deutschland gibt es rund 2000 von ihnen, weltweit rund 10000, schätzt die Skandinavistin.

    "Der Begriff kommt aus dem Skandinavischen und heißt eigentlich erst mal nur: der Glaube an die Asen, also dieses eine der nordischen Göttergeschlechter. Und konstatieren können wir erst mal nur, dass Asatruer einerseits schon bemüht sind, an neuste wissenschaftliche Ergebnisse anzuschließen, andererseits aber auch nicht selbst Wissenschaftler sind. Die wollen ihren Glauben leben und wollen nicht rechts sein und nehmen, was sie an Wissenschaft so finden, um zu sagen: hier haben wir was Solides, und darauf können wir bauen."

    Die Asatru begreifen sich als Natur-Religion. Sie feiern die Jahreszeiten und verschiedene Feste des Lebenskreises, also zum Beispiel die Geburt, ein Pendant zur Konfirmation, Hochzeiten und Sterberiten. Bei den Versammlungen, die Stefanie von Schnurbein miterlebt hat, wurden die Himmelsrichtungen angerufen und Met aus einem Horn getrunken. Viele ihrer Bildwelten und Vorstellungen beeinflussen inzwischen die Pop-Kultur, sagt sie.

    "Ich denk' an Musik-Szenen wie Metal oder auch Neo-Folk und solche Sachen. Also da ist das heute wieder sehr viel präsenter, und auch in den Medien sehr viel präsenter als das noch vor 20 Jahren der Fall war."

    Stefanie von Schnurbein meint, dass Religionen wie Asatru sich in die Mitte der Gesellschaft bewegen werden. Die Sehnsucht nach den eigenen Vorfahren und den Wurzeln beschäftigt die Menschen, sagt sie.

    Werner Bohleber ist Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Frankfurt am Main. Vor Jahren hatte er einen 18-jährigen Patienten, der politisch rechts stand. Er suchte die Behandlung wegen panikartiger Angstzustände und sprach gleich in der ersten Sitzung von seiner "Liebe zu Deutschland". Immer wieder erzählte er davon, wie wichtig ihm Sicherheit und Geborgenheit in einer homogenen Gruppe sei. Werner Bohleber:

    "Und das ist etwas, was ich immer wieder versuche klarzumachen: dass diese Art von idealen, harmonischen Einheitsvorstellungen sehr anziehend sein können. Und die sind auch für uns alle anziehend. Aber was man immer mitdenken muss: das ist ein Januskopf. Auf der anderen Seite haben wir immer die Gewalt, die dadurch hervorgerufen wird. Und das, was nicht reinpasst, wird mit einer heftigen destruktiven Aggression bedacht."

    Wer stark genug ist, sich mit Differenzen und Fremdartigem auseinanderzusetzen, brauche den Schutz solcher Gruppen nicht, sagt Bohleber. Entwurzelte, vernachlässigte oder traumatisierte Jugendliche allerdings kämen oft nur mit Schwarz-Weiß-Denken zurecht und suchten deshalb den vermeintlichen Schutz in rechtsradikalen Kreisen. Alles neben der Idealvorstellung scheine ihnen unerträglich, so Bohleber. Und um die homogene Gruppe zu wahren, münde der Fremdenhass häufig in Gewalt. Eine – in Anführungszeichen – "Rechtfertigung" bilde dabei der Germanenmythos.

    "Das ist natürlich jetzt mit einem gewissen nostalgischen Denken verbunden, und es sind dann auch so Objekte oder bestimmte Schriften oder bestimmte Wappen oder irgendwelche Vorstellungen, die dann zu Stücken werden, die hochgradig affektiv besetzt werden, und worum sich dann so Identitätsvorstellungen einer Großgruppe des "Deutschen" manifestieren können, weil man immer wieder sucht nach etwas. Das ist natürlich auch ein Problem der modernen Gesellschaft, dass sie dem Einzelnen viel aufbürdet an Sinnfindung."

    Die Gesellschaft ist es auch, die Bohleber in der Pflicht sieht, um Rechtsradikalismus zu verhindern. Sie müsse heranwachsenden Perspektiven aufzeigen, ihnen das Gefühl geben, ihre Leistung sei etwas wert. Die derzeitige Situation, vor allem in den südeuropäischen Ländern, wo rund die Hälfte der Jugendlichen arbeitslos ist, sei nicht allein wirtschaftlich prekär. Bohleber meint, die enttäuschten Jungen seien geradezu prädestiniert für die politische Instrumentalisierung.

    "Und das ist eigentlich – ich will nicht sagen ein Pulverfass, aber es ist eine latente Gefahr, derer sich die Politiker, glaube ich, noch viel zu wenig bewusst sind."