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Gertraud Klemm: "Aberland"
Leben im Rollenschema

Als "Wutrede" gegen die gesellschaftlich verordneten Weiblichkeits- und Mutterrituale lobte die Kritik ihren 2014 erschienenen Roman "Herzmilch". Auch im neuen Roman "Aberland" bleibt die österreichische Schriftstellerin Gertraud Klemm ihrem Thema treu.

Von Michaela Schmitz | 06.05.2015
    "Ein Zuhause, in dem es nichts gibt außer dir selbst. Sie ist schwer, diese Leichtigkeit. Sie ist erdrückend, diese Leere." Diesen Satz aus Margaret Atwoods Erzählungen "Das Zelt" stellt Gertraud Klemm ihrem neuen Roman "Aberland" voran. Es ist eine Geschichte über die unerträgliche Leichtigkeit des Frau- und Mutterseins. Abwechselnd erzählt aus der Sicht der 58-jährigen Elisabeth und ihrer Tochter Franziska.
    Franziska ist Mitte 30 und selbst Mutter eines Sohnes im Kindergartenalter. Während Elisabeth in ihrer früheren Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter auf den ersten Blick vollständig aufgegangen zu sein schien, hadert Franziska von Beginn an mit ihrer Entscheidung für die Familie und gegen ihren Beruf. Gefangen im "Muttiversum", fühlt Franziska sich von ihrem Mann allein gelassen: mit Bergen von Wäsche, dem Einkauf, Kochen, Basteln und Backen für Kindergeburtstage und Sommerfeste im Kindergarten. Für den Abschluss ihrer Dissertation über Zebrafische fehlt der Biologin nicht nur die Zeit, sondern auch jede Energie.
    "Nie hätte sie gedacht dass ihre Arbeit so in den Hintergrund treten würde, jahrelang im Zentrum ihres Alltags, mit nassen Ärmeln im tropisch feuchten Fischhaus, das Gurgeln und Plätschern eine meditative Hintergrundmelodie.
    Aber am liebsten versetzt sie sich in die Zeit davor, auf der 'Humboldt' im arktischen Meer, wo sie ihre Planktonnetze auswarfen und nach Krill und Plankton, nach Zahlen fischten."
    Yogaübungen im Keller und kleinstädtische Kulturbesuche mit ihrer kinderlosen Freundin Beatrice sind winzige Freiheitsinseln im ansonsten völlig fremdbestimmten Hausfrauen- und Mutteralltag. Eine kurze Affäre mit dem 65-jährigen Künstler Jakob bleibt Franziskas gewagtester Ausbruchsversuch aus der Enge des gesellschaftlich verordneten gutbürgerlichen Familienglücks in der Vorstadtsiedlung. Ansonsten entspricht sie den Erwartungen. Den Erwartungen der anderen.
    Auf der Weihnachtsfeier ihres frisch beförderten Mannes spielt sie die stolze Ehefrau, beim Kindergartenfest die glückliche Mama und Ostern bei Toms Familie in Tirol die brave Schwiegertochter. Für die steht das längst fällige zweite Kind auf dem Plan. Halbherzig lässt sie sich darauf ein und wird erneut schwanger. Franziska schwankt zwischen Trauer und Erleichterung, als sie die Schwangerschaft abbrechen muss, da ihre ungeborene Tochter wegen eines Gendefekts nicht überlebensfähig ist.
    Doch nur so bleibt ihr genug Luft für ihre Dissertation. Denn eins will Franziska auf keinen Fall: So werden wir ihre Mutter Elisabeth.
    Ihre Mutter war nie berufstätig. Seit die Kinder aus dem Haus sind, langweilt sie sich mit Ehemann Kurt in ihrer noblen Villa in den Lebensabend hinein.
    "Lebensabend, das klingt wie ein Schlamm, der Gasblasen wirft, eine Golfblase und eine Wellnessblase und, schlimmer noch, eine Elektrofahrradblase."
    Mit im Haus lebt die demente Schwiegermutter mit ständig wechselnden Pflegekräften. Todesengel nennt sie Elisabeth. Aus der dumpfen Einsamkeit und lähmenden Perspektivlosigkeit flieht Elisabeth, so oft sie kann, zum Joggen oder Bräunen ins Freibad, noch lieber zur Schönheitsbehandlung ins Kosmetikstudio. Anti-Aging ist ihr einziger Lebensinhalt. Die Frage ist nur, für wen?
    Mit dem frisch ausgemusterten Pensionisten zu Hause hat sie nur Mitleid: Wie wird es Kurt ohne Beruf und seinen dauernden Affären zu Hause wohl aushalten? Der wütet mit Gift gegen Buchsbaumzünsler und andere Gartenschädlinge, als könne er damit das eigene Altern und Sterben ausmerzen.
    "Ich habe Kurt nicht erzählt, dass ich in der Kanzlei gewesen bin, vor fünfzehn Jahren. Wer das Haus bekäme, usw. Was so eine Option in Altaussee kosten würde, wusste ich schon, eine kleine Garçonnière mit Veranda, der Geruch der Himbeersträucher und des Waldbodens. Der Termin damals war eine Sackgasse. Das Paradies gibt es nur im Doppelpack mit dem Ehemann. Das habe ich nie vergessen. Das Leben hat sich in seine Form gefaltet, und unser Glück muss dazwischen Platz haben. Als ich aufstehe, ist zum ersten Mal spürbar, dass sogar die Abendsonne ihre Kraft verloren hat."
    Auch Elisabeth sucht vergeblich emotionale Zuwendung beim Künstler Jakob. Doch für sie gibt es nur einen einzigen wirklichen Lebensmenschen: ihre Freundin Edith. Aber Edith ist schon seit Jahren tot. Die Sehnsucht nach ihr ist geblieben. Vielleicht träumt sie deshalb von einer Liebesbeziehung zu Gustav, dem Ehemann der Verstorbenen. Wie alle anderen Träume bleibt auch dieser unerfüllt.
    Elisabeth und Franziska teilen nicht nur ohne Wissen den gleichen Liebhaber. Mutter und Tochter fallen auch in das gleiche Rollenschema. Dazu scheinen Frauen biologisch prädestiniert und gesellschaftlich verdammt zu sein. In die gutbürgerliche Enge getrieben, führen sie ein Leben wie unter Glas: die klassische Hausfrau Elisabeth genauso wie die vermeintlich emanzipierte Töchtergeneration Franziskas, die ihre eigene berufliche Karriere scheinbar "freiwillig" der Familie opfert. Gefangen, wie die mit Wittgenstein berühmt gewordene Fliege im Fliegenglas, suchen sie vergeblich einen Ausweg aus der Frauen-und-Mütter-Falle, die auch ein Sprach- und Denk-Falle ist. Jedes "Ja, aber ... " steht für das kollektive weibliche Traumverbot. Im "Aberland", der Parallelwelt der Frauen und Mütter, werden Bedürfnisse und Wünsche eingeschränkt, noch bevor sie ausgesprochen sind.
    In ihrem Roman "Aberland" macht Gertraud Klemm diesen Mechanismus weiblicher Selbstzensur aus der beklemmend gefühlsecht beschriebenen Innensicht der beiden Frauen heraus sichtbar. "Aberland" ist eine oft bitterböse Sprach- und Denkanalyse weiblicher Selbsttäuschung und ein feministischer Appell. Denn um der Fliege den Ausweg aus der Fliegenfalle zu zeigen, muss diese sie zuallererst wahrnehmen. Sicher gibt es objektiv existenziellere Nöte als die der finanziell und sozial gut abgesicherten Frauen Elisabeth und Franziska. Subjektiv kann ein Leid aber nie gegen ein anderes aufgewogen werden. Und das von Elisabeth und Franziska betrifft, objektiv gesehen, in unterschiedlichster Ausprägung alle Frauen. Wenn auch nicht immer auf so privilegiertem Niveau.
    Gertraud Klemm: Aberland.
    Droschl Verlag 2015. 184 Seiten, 19,00 EUR.