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"Geschäft auf Kosten der Arbeitnehmer"

Die SPD verteidigt trotz der von der PIN-Gruppe angekündigten Entlassungen den Mindestlohn für Briefzusteller. Die Liberalisierung des Postsektors dürfe nicht zu Lasten der Arbeitnehmer erfolgen, sagte der stellvertretende Bundestagsfraktionschef Ludwig Stiegler. Wettbewerb heiße nicht Lohndumping.

Moderation: Sandra Schulz | 06.12.2007
    Sandra Schulz: Die Debatte um die Mindestlöhne in der Postbranche, um Mindestlöhne überhaupt, sie hat neu an Fahrt gewonnen. Quasi täglich warten die Konkurrenten der Deutschen Post mit neuen Hiobsbotschaften auf, angefangen mit der Meldung, TNT verzichte auf den Einstieg ins Briefgeschäft, bis hin zu der Nachricht, dass die PIN AG mehr als 1000 Mitarbeiter werde entlassen müssen. Doch die Bundesregierung lässt sich davon nicht irritieren.

    Am Telefon ist nun Ludwig Stiegler, für die Sozialdemokraten im Bundestag und stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Guten Morgen!

    Ludwig Stiegler: Schönen guten Morgen!

    Schulz: Herr Stiegler, alles sieht danach aus, als werde es einstweilen nichts mit einer echten Liberalisierung des Postmarkts. Haben die Sozialdemokraten damit durch die Hintertür ihr Ziel erreicht?

    Stiegler: Eine Liberalisierung auf Kosten der Arbeitnehmer und auf Kosten der Steuerzahler ist keine Liberalisierung. Wir haben die Postgesetz damals beschlossen mit der klaren Auflage, dass die Entlohnung im liberalisierten Bereich nicht wesentlich unter dem damals bestehenden Niveau sein kann. Alles, was bisher passiert ist, ist eine Entwicklung, die quer zum Postgesetz läuft, die rechtswidrig ist. Die Bundesnetzagentur hat geschlafen oder sogar, was schlimmer ist, fahrlässig zugelassen, dass hier sich Geschäftsmodelle auf Kosten der Vergütung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und wegen der Aufstockung durch Hartz IV auf Kosten der Steuerzahler entwickelt haben. Also hier muss aufgeräumt werden, und wer da von Liberalisierung spricht und in Wahrheit hier Ausbeutung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern meint, der ist eben in einer anderen Welt.

    Schulz: Der Lohn bei der PIN AG liegt zumindest nach Angaben einer Sprecherin bei 7,50 Euro. Das ist genau der Lohn, den ver.di auch für einen gesetzlichen Mindestlohn vorschlägt. Warum ist das ein Hungerlohn?

    Stiegler: Das ist etwa die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohnes, der nach dem geltenden Postgesetz überhaupt gezahlt werden müsste. Die wenigsten Menschen wissen, dass CDU und FDP damals bei der Postliberalisierung gerne eine Lösung gehabt hätten, wo die PINs und alle anderen Geschäftsmodelle hätten stricken können auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Indes hat die SPD damals im Bundesrat die Postsozialklauseln durchgekämpft, und dort ist klar im Gesetz festgeschrieben, dass die Löhne eben von dem damaligen Bereich nur unwesentlich abweichen dürfen. Wenn Sie die Parlamentsdebatten nachlesen, werden Sie an der Erkenntnis nicht vorbei kommen: Liberalisierung hat bedeutet, dass interessante Angebotskombinationen da sind, dass interessante Dienstleistungen da sind. Aber die Leute für die Hälfte arbeiten zu lassen, das kann eigentlich jeder Depp. Das ist keine Innovation.

    Schulz: Warum für die Hälfte arbeiten lassen? Die Tarifparteien haben sich doch geeinigt auf 8 Euro bis 9,80 Euro die Stunde. Davon sind 7,50 Euro nicht die Hälfte.

    Stiegler: Ich rede von dem gesetzlichen Mindestlohn nach dem Postgesetz, und da ist der Maßstab der Posttarif. Das ist ein Briefträger, der von seinem Lohn leben kann, der seinen Standard hat. Der ist praktisch der Referenzmaßstab, und der war damals im Blickfeld des Gesetzgebers. Dessen damalige Vergütung, das war der regulierte, der lizenzierte Bereich. Dessen Vergütung sollte nicht wesentlich unterschritten werden. Das ist ja etwa die Schweinerei, die passiert ist, dass Bundesnetzagentur und Bundeswirtschaftsministerium jahrelang lizenziert haben, nicht aufgepasst haben, dass die PINs und die anderen miserable Löhne gezahlt haben und Geschäftsmodelle aufgebaut haben, die glatt rechtswidrig waren. Die Postmindestlohndiskussion ist ja erst richtig losgegangen, als wir letztes Jahr einfach eine Bestandserhebung gefordert haben über die Bezahlung und festgestellt haben, dass nur ein kleiner Bruchteil ordentliche Arbeitsplätze haben. Die anderen haben zeitlich befristete oder Minijobs. Wer genau reinschaut in die Branche, der macht ja am liebsten wieder die Augen zu.

    Solche Dinge hatte der Liberalisierungsgesetzgeber nicht gewollt. Wir wollten die Liberalisierung der Leistung und nicht die Ausbeutung der Arbeitnehmer, wie es hier in diesem Bereich gang und gäbe war, wobei die Größeren noch besser sind als die vielen Kleineren, die da in den Regionen wirklich die Menschen ausnehmen wie die Gans.

    Schulz: Gleichzeitig war natürlich eine Liberalisierung geplant, die auch einen echten Wettbewerb schaffen würde. Wenn die Situation sich nun so darstellt, dass alle Wettbewerber der Deutschen Post AG, sozusagen des Ex-Monopolisten in spe sagen, wir strecken die Waffen, wir können da nicht mithalten, was ist dann für die Kunden der Postdienstleister gewonnen?

    Stiegler: Wenn sie was taugen, bieten sie mit Rationalisierungsfortschritten Leistungen an, die sie im Wettbewerb, wenn die Post nicht auf der Höhe der Zeit sein sollte, dann besser anbieten können. Aber ich sage noch einmal: Wer auf die Idee kommt, und das sind ja auch viele Kollegen in der CDU und andere, die meinen, Wettbewerb sei, wenn man Lohndumping macht, wenn man den Lohn drückt, wenn man sozusagen Indien in Deutschland lebt, das ist doch nicht der Wettbewerb. Der Wettbewerb wären interessante Dienstleister an den Menschen, und die kann man im Wettbewerb mit der Post, auch ordentlich bezahlt, nach wie vor anbieten. Ich halte diese ganze Diskussion, wie sie jetzt läuft, geradezu für eine Perversion, dass man meint, Wettbewerb müsse automatisch schlechtere Löhne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeuten. Im Gegenteil: Wenn man im Wettbewerb dazugewinnt, muss man seine Leute anständig bezahlen können. Sonst ist das Geschäftsmodell von Vornherein im Falle des Postgesetzes gar nicht rechtstauglich, und in einem Normalfall ist ein Geschäftsmodell auf Kosten und auf Knochen der Arbeitnehmer kein reizvolles Geschäftsmodell.

    Schulz: Herr Stiegler, noch mal die Nachfrage, denn ich kann Ihnen da inhaltlich nicht folgen. 7,50 Euro, sagt die PIN AG, zahlt sie ihren Arbeitnehmern. Unterstellen Sie der PIN AG, dass diese Angabe nicht stimmt, oder sagen Sie, dass ver.di mit der Forderung eines gesetzlichen Mindestlohns von 7,50 Euro sich auch für Dumpinglöhne stark macht?

    Stiegler: Sie müssen sehen: Wir haben den Postbereich, und im Postbereich gibt es ein Gesetz, das die Löhne orientiert nicht am allgemeinen Mindestlohn und an irgendwelchen Branchen, die weit darunter sind, sondern an der damaligen Höhe der Entwicklung der Entlohnung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie müssen sich mal mit dem Postgesetz vertraut machen, und dann werden Sie sehen, dass der Referenzmaßstab nicht der allgemeine Mindestlohn oder irgendetwas ist, sondern Referenzmaßstab ist die damalige Entlohnung bei der Post plus, minus etwa zehn Prozent. Das ist etwa die Schwankungsbreite, die das Postgesetz zulässt. Deshalb ist dieser Mindestlohntarifvertrag für meinen Geschmack schon eher an der Untergrenze dessen, was überhaupt rechtlich gerade noch machbar ist.

    Das kann man dann vielleicht noch rechtfertigen, weil die Bestandserhebung etwas schwierig ist. Aber wir haben hier einen Sonderfall im Postbereich, dass wir gesetzliche Mindestlöhne praktisch schon haben und nur an ihrer Verwirklichung gescheitert sind, weil die Bundesnetzagentur bei der Lizenzierung entweder vorsätzlich oder grob fahrlässig es unterlassen hat, die Entlohnung im Auge zu behalten, und ja es sogar dort Leute gab, die meinten, man müsse erst einmal Wild-West entstehen lassen, damit überhaupt die Dinge vorankommen. Das war aber indes gegen das Gesetz. Ich kann Ihnen gerne ein Rechtsgutachten zuschicken, das ich mal für den Kurt Beck gemacht habe, wo die ganze Parlamentsdebatte und die Gesetzgebungsgeschichte noch einmal nachvollzogen worden ist. Der Bundestag hat damals beschlossen, die Löhne im lizenzierten Bereich dürfen nur unwesentlich der Löhne sein, die für die Post gelten, und der Wettbewerbsvorteil soll nicht in Lohndumping bestehen, sondern darin bestehen, dass man intelligente Dienstleistungen anbietet und nicht hier ein Geschäft auf Kosten der Arbeitnehmer macht.

    Schulz: Herr Stiegler das heißt also, dass Sie auch die Einigung der Großen Koalition kritisieren, die ja nun diesen Mindestlohn zwischen 8 Euro und 9,80 Euro festgelegt hat?

    Stiegler: Ich habe gesagt, das ist für mich die Untergrenze dessen, und ich suche immer noch nach Wegen und betreibe das auch weiter, dass sozusagen die direkte Anwendung der Postsozialklauseln weiter verfolgt wird, denn es wird immer wieder da Schweinebären geben, die versuchen werden, quasi an der Regelung des Postgesetzes vorbei etwas zu machen, ganz abgesehen davon, dass der Tarifvertrag ja im persönlichen Geltungsbereich zuletzt auf Druck eben der politischen Diskussion noch mal etwas reduziert worden ist. Für mich ist der erste Maßstab das vom Deutschen Bundestag verabschiedete Postgesetz, das uns orientiert plus, minus zehn Prozent an der Post und zwar bei allen Arbeitsbedingungen, nicht nur bei den Löhnen, sondern auch beim Urlaub, auch bei der Frage, ob festangestellt oder zeitangestellt, oder bei der Frage, ob Minijob oder ein anderer Job. Das ist das eine. Da findet zurzeit eine Datenerhebung statt, und da werden wir hinterher einen Blick haben, was sich da alles an unsittlichen Dingen entwickelt hat. Das zweite ist jetzt einmal eine schnelle rasche Lösung, der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag. Das ist für mich wirklich nur die unterste Grenze.

    Schulz: Ludwig Stiegler war das. Vielen Dank für diese Einschätzungen. Ludwig Stiegler, für die Sozialdemokraten im Bundestag und stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Vielen Dank Ihnen.