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Geschichte aktuell: "Blutiges Allerheiligen" in Algerien

Lied: Algerien, mein schönes Land, nie werde ich dich vergessen - wie traurig auch mein Schicksal werden mag...

Von Robert Baag | 01.11.2004
    Das kam nicht überraschend. Nicht so in der Art, als ob man eine unerwartete Ohrfeige bekommt. Irgendwas hing schon lange in der Luft. Das spürte man. Einzelne Araber hatten schon angefangen, sich zunehmend feindselig zu verhalten. Da und dort gab es in den Moscheen jetzt Versammlungen. Die Haltung unter uns Franzosen war einhellig: Wir hatten Angst. Irgendwie - so dachten wir - klappt das nicht mehr... Es gab Clan-Chefs unter den Arabern, die das schließlich offen aussprachen. "Die Franzosen’, so sagten sie, 'sollen Algerien verlassen!"
    Constant Chevy, ein Algerien-Franzose, ein so genannter "pied-noir" kann sich an den ersten November 1954 noch gut erinnern - das Allerheiligen-Fest. "Blutiges Allerheiligen" wird man diesen Tag später nennen. Das letzte Kapitel in der Kolonialgeschichte Frankreichs hatte damals begonnen - mit zentral koordinierten Überfällen und Anschlägen fast überall in Algerien. Eine noch vergleichsweise kleine Gruppe algerischer Freiheitskämpfer machte mit diesem Manifest aus dem Untergrund anschließend rasch auf sich aufmerksam:

    Algerien hat einen großen und grandiosen Kampf für die Freiheit und den Islam begonnen. Heute, am ersten November 1954, um ein Uhr morgens, hat Algerien anfangen, ein ehrenhaftes Leben zu leben. Eine mächtige Elite freier Kinder Algeriens hat den Aufstand der algerischen Freiheit gegen den tyrannischen französischen Imperialismus in Nordafrika ausgelöst. Unsere Aktion richtet sich allein gegen den Kolonialismus, der sich stets geweigert hat, uns auch nur die geringsten Freiheiten zuzugestehen, die wir mit friedlichen Mitteln erreichen wollten. Unsere Erneuerungsbewegung präsentiert sich unter dem Kürzel: "Nationale Befreiungsfront: FLN!

    "Bald danach haben wir immer mit dem Gewehr neben dem Bett geschlafen", erinnert sich Natacha Chevy. Denn vor allem nachts hätten die Aufständischen angegriffen. Die französische Siedlerfamilie, zwei Erwachsene, drei kleine Kinder, lebt in dem Dorf Sidi Aissa, rund 150 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Algier. Constant Chevy, dessen Vater einst aus der Bretagne nach Algerien gezogen war, führt dort seine Landmaschinen-Werkstatt.

    Das erste Wetterleuchten lag noch keine zehn Jahre zurück. Ausgerechnet am 8. Mai 1945, dem Sieg - auch Frankreichs - über Hitler-Deutschland, demonstrierten muslimische Algerier schon einmal für mehr Freiheit und Gleichheit gegen die Politik von Paris.
    Der Krieg ist gewonnen - so damals der Reporter in seiner Radioübertragung aus Paris - Viele tausend Menschen sind auf die Champs Elysées geeilt, singen die Marseillaise.
    Aber: Ungefähr gleichzeitig mit den Freudenschüssen in der Hauptstadt feuern französische Sicherheitskräfte jenseits des Mittelmeers auf eine demonstrierende, muslimische Menschenmenge in den algerischen Städten Sétif, Guelma und Kherrata. Bis zu 45.000 Tote - so weiß man inzwischen - sind die Folge dieses brutalen Vorgehens.

    Zunächst herrscht dann wieder Ruhe im Land. Oberflächliche Ruhe. In Wirklichkeit brodelt die Stimmung - zumindest unter den algerischen Intellektuellen. Algerien, seit 1830 französischer Besitz, dem Osmanenreich entrissen - war verwaltungstechnisch in drei departments aufgeteilt - war in den Augen vieler Franzosen also keine Kolonie sondern ein Teil Frankreichs. Anders übrigens als die schon bald in die Unabhängigkeit entlassenen Nachbarländer Tunesien und Marokko, die aber den Status französischer Protektorate gehabt hatten.

    "Mir kam es damals so vor", erinnert sich Natacha Chevy: "Ich war in einer französischen Gemeinde - in einem fremden Land. Ich habe gut gewusst, dass wir in Algerien sind. Aber man lebte genau so wie man in Frankreich lebt."
    Allerdings: Den anderthalb Millionen Franzosen - darunter übrigens auch viele seit Generationen naturalisierte Spanier und Italiener - standen rund zehn Millionen Araber und Berber gegenüber.

    "Frankreich hat viele Fehler gemacht!" - ergänzt Constant Chevy. Paris und die Verwaltung in Algier hätten sich mehr um das algerische Volk kümmern müssen. Man habe die Menschen aber getäuscht und enttäuscht, viele Versprechen gemacht - und sie dann nicht gehalten.

    Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Nach dem Beginn der Revolution am 1. November 1954, wie dieses Ereignis in Algerien offiziell bezeichnet wird, begann ein blutiger Krieg, der knapp acht Jahre, bis 1962, dauern sollte und in dem insgesamt wohl bis zu einer halben Million Menschen umgekommen sind - darunter rund 24 000 französische Soldaten.

    Legionäre! - Alles hört auf mein Kommando: Stillgestanden! - Rührt Euch! - Stillgestanden! - Rührt Euch!
    Kasernenhof-Drill für Fremdenlegionäre. Paris setzte sie in diesem sich ausweitenden Partisanenkrieg schon bald bevorzugt ein - neben den eigenen Wehrpflichtigen und Berufssoldaten wenn es um so genannte "Himmelfahrtskommandos" ging oder um die berüchtigten "Befriedungs"-Aktionen.

    Den größten Anteil in der Legion nehmen die Deutschen ein. Hinter den Deutschen kommen die Italiener, dann haben Sie Spanier, Polen, Russen und Menschen aus allen Ländern, die sich zur Legion verpflichtet haben.
    Horst Lemke, ehemaliger Funker und Caporal - also Gefreiter - der Fremdenlegion erklärt, damals, Mitte der 50er Jahre, weshalb viele seiner Kameraden sich als Legionäre von den Franzosen hatten verpflichten lassen:

    Ja, die meisten waren aus der Ost-Zone oder haben keine Eltern, keine Anverwandten und nichts mehr gehabt.
    Dies war aber nur die eine Seite. Denn - einmal in der Legion - trafen Orientierungslosigkeit, Abenteuerlust und oft auch Naivität dieser jungen Männer auf die brutale Realität eines grausamen und schmutzig geführten Kampfes zur "Wiederherstellung der Ordnung" - wie die offizelle französische Sprachregelung sogar noch bis 1999 lautete. Das Wort "Algerien-Krieg" durfte bis dahin - wider allgemeines besseres Wissen - deshalb nicht verwendet werden, da es sich formal um Auseinandersetzungen im Landesinneren gehandelt habe.

    Rund viertausend Mann, etwa ein Zehntel der in diesen acht Jahren eingesetzten Fremdenlegionäre - so heißt es - seien desertiert, zur algerischen FLN übergelaufen. Drei Viertel dieser Fahnenflüchtigen waren Deutsche. - Einer von ihnen - Franz Lischewski:

    Als ich türmen gegangen bin, bin ich ja bei denen in der Kaserne gewesen. Da hab ich erst gemerkt, dat dat genauso prima Leute sinn wie wir oder, ’ne, alle annern auch. Die Offiziere von dieser FLN, die ham uns dat so erzählt, dass da einer gibt, der die Leute weiterleitet. Der kann uns zur Heimat bringen, nach Hause.

    Der Legionär (Freddy)
    (...)
    Überall lauert das Verderben,
    denn auf der Flucht, da wartet das Sterben,
    wenn sie ihn fangen,
    gibt’s kein Pardon für ihn.
    Der Weg nach Haus ist schwer
    für einen Legionär
    und viele sehen die Heimat,
    die Heimat niemals mehr.
    Sogar die kitschig-sentimentale, bundesdeutsche Schlagerwelt Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre hatte nun den "Legionär" entdeckt. Ab und zu Bedauern, manchmal Mitgefühl, in der Regel aber Gleichgültigkeit und Ablehnung - dies waren sonst eher die Reaktionen, wenn damals das Thema zur Sprache kam: "Söldner" und "moderne Landsknechte" seien diese Männer, hieß es in der noch jungen Bundesrepublik meist peinlich berührt.

    Aber im Kalten Krieg jener Jahre - zwischen Ost und West - waren die deutschen Fremdenlegionäre zugleich ein willkommenes Thema für Propagandazwecke, übrigens schon zu Zeiten des französischen Krieges in Indochina, den Paris mit der Niederlage von Dien Bien Phu ebenfalls 1954 - Anfang Mai - verloren hatte. - Aus einer Kundgebung in den 50er Jahren im Ostberliner Friedrichstadt-Palast:

    Meine Damen und Herren, das Schicksal der deutschen Fremdenlegionäre ist eine ungeheure Warnung an das gesamte deutsche Volk! Grauenhaftes haben uns diese ehemaligen Fremdenlegionäre berichtet. So gehen die Imperialisten mit Menschen um. Zu solchen Bestialitäten erziehen die Imperialisten der Westmächte und Westdeutschlands junge Menschen. Dazu halten sie junge Westberliner und junge Westdeutsche in hoffnungsloser Arbeitslosigkeit. Dazu lassen sie Hunderttausende Umsiedler in Westdeutschland bitterste Not leiden. Damit sie demoralisiert und bereit sind, sich an die schmutzigen Kriege der Imperialisten zu verkaufen. Und das nennen die Imperialisten ihre so genannte freie Welt - Freiheit für die französischen Kolonialschlächter!
    Ein Jungsozialist aus Köln, er sollte 1959 erster gewählter Bundesvorsitzender der Jusos werden, engagierte sich seinerseits auf westlicher Seite aktiv, um Fremdenlegionären in Algerien zur Flucht zu verhelfen:

    Wir haben Plakate gedruckt gegen die Fremdenlegion, die auch an den wichtigsten Straßen von der Bundesrepublik nach Frankreich gebracht - und wir haben mitgeholfen, einen Dienst zu errichten, der von der algerischen Bevölkerung Flugblätter in deutscher Sprache an deutsche Fremdenlegionäre gegeben hat - und in denen mitgeteilt war, wenn sie damit nach Tunesien oder nach Marokko gehen, dass sie frei sein werden.
    Hans-Jürgen Wischnewski - jahrzehntelang auf wichtigen Positionen in der bundesdeutschen Sozialdemokratie. Seine besonderen Beziehungen in den algerisch-arabischen Raum, brachten ihm bald einen berühmten Spitznamen, sein Markenzeichen, ein: "Ben Wisch". Für den ehrgeizigen JuSo stand über zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs fest:

    Die Zeit des Kolonialismus muss vorbei sein. Selbstbestimmungsrecht muss auch für die Algerier gelten. Wir können für unser Selbstbestimmungsrecht nicht ehrlich eintreten, wenn wir das Selbstbestimmungsrecht anderer nicht haben wollen.
    Die offizielle Politik der deutschen Bundesregierung unter Konrad Adenauer bewegte sich dagegen während des Algerienkriegs - um im Bild zu bleiben - auf einer Art außenpolitischem "Minenfeld". - Denn, so der Historiker Klaus-Jürgen Müller: Frankreich verlangte Solidarität von Bonn - außerdem: Frankreich war eine der Garantiemächte für West-Berlin:

    Und so hatte die deutsche Politik im Grunde sich in einem Dreieck zu bewegen, in dem einen Ost-West-Gegensatz - das Problem: Sowjetunion - in dem anderen: Europapolitik um den Kern des deutsch-französischen accords oder entente cordiale oder wie sie wollen herum - und in einem dritten: die deutsche Position in der internationalen Welt, sprich: arabische Länder, die traditionell mit Deutschland beste Beziehungen hatten.
    Der Oppositionspolitiker Wischnewski fühlte sich ungebundener bei seinen Aktivitäten zugunsten der algerischen FLN. - Und die DDR - die empfand er nicht als Konkurrenz bei den von ihm mitkoordinierten pro-algerischen Hilfsaktionen der bundesdeutschen Linken:

    Die Algerier haben Hilfe angenommen, wo immer sie sie herbekommen konnten. Und das hab ich ihnen auch nicht übel genommen in ihrer Situation." - "Also auch aus der DDR?" - "Jedenfalls hat es dort sicher auch eine gewisse Unterstützung gegeben. Aber nicht eine so enge und intensive Zusammenarbeit wie das bei uns der Fall gewesen ist. - Es hat algerische Studenten in der DDR gegeben, die von heute auf morgen durch die algerische Exilregierung abberufen wurden, als man in der Exil-Regierung den Eindruck gewonnen hatte, dass die zu Kadern ausgebildet werden, um eine Kommunistische Partei in Algerien zu schaffen. Das wollte die Exilregierung in gar keinem Falle.

    Ex-Legionär: Wir sollten in der Stadt aufräumen. Wir waren im Krieg. Manche sind in Würde verreckt - ohne zu reden. Andere sind mit der Sprache rausgerückt. Nach und nach haben sie uns alles erzählt. Dann brachten wir sie in den Wald. Genickschuss. Die Leichen wurden ausgezogen, die Kleider mitgenommen, damit man sie nicht wieder erkennt. Die Toten ließen wir einfach so liegen. Wir haben sie nicht beerdigt. Die Schakale haben sich um den Rest gekümmert. Alles andere hätte zuviel Zeit gekostet.
    Ein Ex-Legionär. Er hat heute noch Alpträume - sagt er.

    Ein ehemaliger Eingezogener aus dem Elsass:

    Ich habe eine schwangere Frau gesehen, eine Französin. Und zwei Araber - vielleicht 18 Jahre alt -, die ihr den Bauch aufgeschnitten hatten und mit dem Fötus Fußball spielten. Sie hatte noch einen Jungen bei sich. Sie warfen seine Arme und Beine den Hunden zum Fressen vor, die da herumstreunten. - Das ist alles, was ich zu sagen habe.

    Grosser: …und damit war der Hass auch absichtlich geschürt worden, damit es Repressalien gebe, und das war die ganze Strategie des FLN: Die Repressalien sind willkommen, weil sie dann auf Unschuldige hinunterprasseln, und damit wird dann die algerische Bevölkerung und die moslemische Bevölkerung mit uns solidarisch, die es ja am Anfang sehr wenig war...
    ... weiß ein anderer Zeitzeuge, der Pariser Politologe Alfred Grosser. - Obwohl in Frankreich bereits 1968 eine Generalamnestie für alle Straftaten während des Algerienkriegs verkündet worden war, kam eine echte öffentliche Diskussion über die Verstrickungen beider Seiten in Frankreich erst vor ein paar Jahren in Gang - und sie bleibt schmerzhaft, nicht nur wenn strafrechtlich fast folgenlose Bekenntnisse wie diese zu hören sind:

    "Frauen sind während des Algerienkriegs von uns genau so behandelt worden wie die Männer.", erzählt im französischen Fernsehen unbewegt General Aussaresses einer der militärisch Verantwortlichen im Algerienkrieg. - "Heißt das", fragt ihn darauf eine Journalistin: "Frauen sind auf dieselbe Weise gefoltert worden wie dies Männern hätte passieren können?" - Die Antwort des längst pensionierten hohen Offiziers kommt knapp, ohne zu zögern: "Gewiss, gnädige Frau!" - "Sind Frauen während der Verhöre vergewaltigt worden?", will sie dann wissen. - "Niemals, Madame - niemals
    !", erwidert Aussaresses sofort im Brustton der Überzeugung, allerdings mit spürbar entrüstetem Unterton.

    Wischnewski: Es war eine Revolution. Und es war ein furchtbarer Kolonialkrieg. In dieser Zeit ist der Krieg von beiden Seiten, von beiden Seiten mit ziemlicher Grausamkeit geführt worden. Die FLN war die Institution, die die Unabhängigkeit erreicht hat, wobei natürlich die Rolle de Gaulles nie unterschätzt werden darf. Der Mann hatte eingesehen, dass dieser Kolonialkrieg Frankreich mehr Schaden einbrachte als Nutzen im internationalen Ansehen, aber auch so viel Truppen gebraucht worden wären, um das Land zu beherrschen - das große Algerien, das sehr große Algerien! Das hätte finanziell, wirtschaftlich gar nicht funktionieren können.

    "Wir vertrauten de Gaulle!" - erinnert sich dagegen mit Bitterkeit der Algerien-Franzose Constant Chevy, der mit seiner Frau nun schon seit Jahrzehnten im elsässischen Strasbourg lebt. - De Gaulle habe ihnen noch 1958 ein französisches Algerien versprochen. - "Und dann" - so der heute 83-Jährige - "dann hat er uns verraten, wirklich verraten!" Den Rückwärtsgang habe er eingelegt. Und damit einen großen Fehler begangen. Seine Frau - Natacha - macht deutlich, wie die beiden heute durchaus differenziert denken, im Abstand von genau fünfzig Jahren nach dem "Blutigen Allerheiligen"-Tag von Algerien:

    Zuerst hat man den Algerien-Franzosen gesagt: "Bleibt da! Für euch gibt’s kein Risiko. Ihr werdet immer Franzosen bleiben, der Krieg wird nicht lange dauern." - Aber dann auf einmal wurde es immer schlimmer, und dann war da plötzlich dieses Klima von Hass zwischen den Völkern, das es zuvor absolut nicht gegeben hatte! - Ich habe zuvor niemals Hass zwischen Franzosen und Arabern bemerkt. Aber als dann das Morden begann, da eskalierte die Situation - und da war dann niemand, der gesagt hätte: "Stop! Ihr wollt eure Unabhängigkeit??? - Na, wenn das so ist, dann werden wir sie euch geben. Aber lasst uns zuvor die Ausreise der Franzosen vorbereiten." Dann wäre es doch nicht zu diesem schrecklichen Ende gekommen.