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Geschichte der Kartografie
Von Ptomeläus bis Google Earth

In Zeiten von Navigationsgeräten fristen Karten nur noch ein trauriges Dasein. Dabei liefern sie viele spannende Informationen, zum Beispiel über unterschiedliche Weltanschauungen oder kommerzielle Interessen. Der englische Historiker Jerry Brotton stellt eine 2.000-jährige Geschichte der Welt in zwölf Karten vor.

Von Otto Langels | 02.03.2015
    Claudius Ptolemäus nutzte die legendäre Bibliothek in Alexandria, eine der bedeutendsten der Antike, zu umfassenden Forschungen auf dem Gebiet der Geografie. Seine Erkenntnisse fasste er in einer Abhandlung über Größe, Gestalt und Grenzen der bewohnten Welt zusammen.
    "Das Werk war vieles gleichzeitig", schreibt der Historiker Jerry Brotton in seiner Geschichte der Welt in zwölf Karten:
    "Eine topografische Darstellung, eine Liste der geografischen Breite und Länge von mehr als 8.000 Orten in Europa, Asien und Afrika, eine Erläuterung der Rolle, die die Astronomie für die Geografie spielte, eine detaillierte mathematische Anleitung zur Anfertigung von Karten der Erde."
    Ptolemäus' Beschreibung der Erde zeigte die Welt so, wie er sie im zweiten Jahrhundert sah, mit dem Mittelmeerraum, Europa, Nordafrika, dem Nahen Osten und Teilen Asiens.
    Die Geografie des Ptolemäus steht am Anfang von Jerry Brottons Streifzug durch die Weltgeschichte anhand von zwölf berühmten Weltkarten, darunter die mittelalterliche Hereford-Karte mit Jerusalem als Zentrum, die koreanische Kangnido-Karte aus dem 15. Jahrhundert, die Weltkarten Martin Waldseemüllers und Gerhard Mercators aus dem 16. Jahrhundert, die umstrittene Peters-Projektion aus dem 20. Jahrhundert und zu guter Letzt die virtuelle Darstellung von Google Earth.
    Karte als perfektes Medium zur Darstellung von "Welt-Bildern"
    Herausgekommen ist eine beeindruckende Studie. Brotton, Professor für Renaissancestudien und die Geschichte der Kartografie an der Queen Mary University of London, entfaltet anhand der Kartenwerke ein Panorama der jeweiligen Gesellschaftsordnung mit ihren politischen und technischen Entwicklungen.
    "Für viele Kulturen ist eine Karte das perfekte Medium gewesen, um ein bestimmtes "Welt-Bild" in dem einen wie dem anderen Sinn wiederzugeben. Zentren und Grenzen und das ganze Drum und Dran, das man auf einer Karte findet, werden ebenso sehr durch die Weltanschauung desjenigen, der die Karte herstellt, festgelegt wie durch die Wahrnehmung der physischen Realität, die aber nie von einem neutralen kulturellen Standpunkt aus erfolgt."
    Die Kartografie ist keine objektive Wissenschaft, eine Aussage, die Brotton wie ein Mantra wiederholt. Während Moslems den Süden im 11. Jahrhundert oben einzeichneten, war die englische Hereford-Karte aus dem 13. Jahrhundert, gefertigt aus einer einzigen Kalbshaut von 1,60 Meter mal 1,40 Meter Größe, nach Osten ausgerichtet und mit Pilgerrouten versehen. Dass sich schließlich der Norden als Ausrichtungspunkt durchsetzte, war weder zwangsläufig noch wissenschaftlich notwendig.
    Denn Weltkarten reflektierten häufig auch Machtverhältnisse und nahmen daher eine egozentrische Perspektive ein. Brotton präsentiert verschiedene Karten, die das dominierende Reich im wörtlichen Sinn in den Mittelpunkt rückten. In der ältesten erhaltenen, in Ton geritzten Karte verlegten die Babylonier vor zweieinhalb Jahrtausenden Babylon ins Zentrum, deutlich größer markiert als andere Städte.
    Auf der Kangnido-Karte wiederum, der ersten in Ostasien entstandenen Weltkarte, liegt China in der Mitte:
    "Die Welt stellt sich als eine zusammenhängende Landmasse dar, das heißt, es gibt keine separaten, von Meeren umgebenen Kontinente. Mehr als achtzig Jahre, bevor portugiesische Seefahrer entdeckten, dass der Kontinent umschiffbar war, zeigt die Kangnido-Karte Afrika mit der jetzt vertrauten Südspitze. Oberhalb von Afrika findet sich die nicht weniger faszinierende Darstellung Europas. Sogar Deutschland ist dargestellt."
    Viele mehrfarbige, reichhaltig illustrierte Weltkarten dienen der Veranschaulichung des Textes, haben allerdings einen so kleinen Maßstab, dass die kolorierten Details kaum zu erkennen sind.
    Karten dienten zu Propaganda-Zwecken
    Wie Karten in den Dienst politischer Propaganda genommen wurden, zeigt Jerry Brotton anhand einer berüchtigten deutschen Karte aus dem Jahr 1934. Sie suggeriert, Deutschland werde vom Nachbarn Tschechoslowakei massiv bedroht.
    "Durch die geschickte Verwendung eines Hell-dunkel-Kontrastes wird ein starker Gegensatz zwischen dem passiv daliegenden und nur als unstrukturierter Fläche gezeigten Deutschland und der kleineren Tschechoslowakei aufgebaut, die wie ein Keil drohend in Ersteres hineinzuragen scheint."
    "Im Zweiten Weltkrieg stützten sich die Nazis bei der Umsetzung ihrer rassistischen Vernichtungspolitik auf detailliertes Kartenmaterial. Auf einer präzisen Darstellung der Slowakei waren die Orte schwarz eingekreist, in denen Juden und Roma lebten."
    Zu DDR-Zeiten wiederum druckte das SED-Regime Karten, auf denen West-Berlin nur als weißer Fleck auftauchte.
    1973 unternahm der deutsche Historiker Arno Peters den Versuch, eine Karte anzufertigen, die frei sein sollte von den Verzerrungen imperialistischer oder totalitärer Weltbilder. Alle Staaten und Völker wollte Peters gleichberechtigt darstellen. Daher erscheinen auf seiner Karte z. B. Afrika und Südamerika größer und Europa kleiner als bis dahin üblich. Die sogenannte Peters-Projektion wurde zur meistverkauften Weltkarte aller Zeiten, entfachte jedoch unter Experten heftige Kontroversen, weil auch sie ungenau war.
    Stellt alle Karten und Atlanten in den Schatten: Googel Earth
    "Aus einer Höhe von 11.000 Kilometern gesehen, scheint der Planet Erde aus der dunklen und leeren Tiefe des Weltraums aufzusteigen", so beschreibt Jerry Brotton das virtuelle Bild der Welt auf der Homepage von Google Earth.
    "Die Sonnenstrahlen lassen seine Oberfläche aufleuchten. Die Flächen der Meere glitzern in einem intensiven Ultramarinblau, und die Kontinente bilden einen betörenden Flickenteppich aus grünen, braunen und rosa Farbtönen."
    Google Earth ist ein Programm, das sich schätzungsweise mehr als eine halbe Milliarde Menschen heruntergeladen haben und das alle bisherigen Karten und Atlanten in den Schatten stellt. In Sekundenschnelle lässt sich jeder beliebige Ort heranzoomen und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Möglicherweise, so behauptet Google, sind wir die Letzten, die noch wissen, was es bedeutet, sich verlaufen zu haben. Gleichwohl bedient sich Google geometrischer Verfahren und Projektionen, wie sie bereits Ptolemäus benutzte. Brottons Fazit:
    "Jede Karte akzeptiert das Faktum, dass der Erdball nicht wirklich zutreffend auf einer ebenen Fläche kartografisch wiedergegeben werden kann."
    Auch diese Tatsache zu wiederholen, wird Jerry Brotton nicht müde. Doch abgesehen von diesen Redundanzen hat der Autor eine faszinierende, gut geschriebene Darstellung aus einer ungewöhnlichen Perspektive vorgelegt.
    Jerry Brotton: Die Geschichte der Welt in zwölf Karten.
    C. Bertelsmann Verlag, 720 Seiten, 39,99 Euro