Archiv

Geschichte der Ukraine
Ein Land in der Zerreißprobe

Den Westen der Ukraine zieht es nach Europa, den Osten nach Russland - dieser Sichtweise gehen Christiane Schubert und Wolfgang Templin in ihrem Buch "Dreizack und Roter Stern: Geschichtspolitik und historisches Gedächtnis in der Ukraine" nach. Das Autorenpaar fragt nach der Geschichtspolitik und dem historischen Gedächtnis in der Ukraine.

Von Lerke von Saalfeld | 22.06.2015
    Ein höchst bemerkenswertes Buch zur Geschichte der Ukraine ist soeben erschienen, verfasst von Christiane Schubert und Wolfgang Templin. Ihre Studie reicht historisch weit zurück bis zur Entstehung der Kiewer Rus als ostslawischer Stammesverband im 9. Jahrhundert. Jahrhundertelang war das Land zerrissen zwischen Polen, Litauen, der K.-u.-k.-Monarchie und Russland.
    Christiane Schubert, Jahrgang 1955, geboren in Lüneburg, war 2005 zum ersten Mal in der Ukraine und hat 2006/2007 Radioberichte aus dem Land für das Deutschlandradio verfasst; Wolfgang Templin, Jahrgang 1948, geboren in Jena, gehörte zur demokratischen Opposition der DDR, hat in Warschau studiert und war dort von 2010 bis 2013 Leiter des Auslandsdienstes der Heinrich-Böll-Stiftung. Beide haben sich seit vielen Jahren mit der Geschichte der ost-/mitteleuropäischen demokratischen Bewegungen beschäftigt.
    Templin: "Die gegenwärtige Situation der Ukraine erschließt sich aus dieser langen und teilweise sehr komplizierten Geschichte, erschließt sich aus ihrer Verflochtenheit mit der Geschichte Polens, Litauens und Russlands und das war eigentlich der Beweggrund, der uns diese lange komplexe Geschichte erzählen ließ, um in der hochdramatischen Gegenwart zu landen. Die Entwicklung dieser Ereignisse wiederum zeigt, wie entscheidend ein historisches Vorwissen über die Ukraine, über ihre Entwicklungsgeschichte, ihr Selbstverständnis ist, um die gegenwärtige Konfrontation zu verstehen. Gegenwärtig wird der Ukraine ja förmlich ihre eigene Identität, ihre kulturelle Tradition abgesprochen, sie wird als Teil Russlands definiert, sie wird ihrer Geschichte beraubt, die sie aber hat und die wir darzustellen versuchen."
    Schubert: "Ursprünglich kommt das aus dem russischen Verständnis, dass die Ukrainer die Kleinrussen sind, die im 17./18. Jahrhundert aus Bauern bestanden haben, aber eben nicht nur. Das ist eine Sichtweise, die sich von daher fortgesetzt hat bis heute, und manche Politiker übernehmen das. Bisher war es bei Osteuropa-Historikern quasi ein Orchideenfach, wenn man sich mit der Ukraine beschäftigt hat."
    Dissidenten im Ostblock
    Bereits vor 1989 gab es auf der Ebene der demokratischen Bewegungen in Ost/Mitteleuropa auf Grundlage der Charta 77 und des Helsinki-Prozesses immer wieder Verbindungen und gegenseitige Konsultationen von Dissidenten im Ostblock. Solche Gesprächsfäden, auch zwischen Deutschen und Ukrainern, reichen bis in die Gegenwart, wie Christiane Schubert erzählt:
    "Ein Beispiel wären die 'Kiewer Gespräche', die es seit 2005 gibt. Es ist ein Versuch, ein Dialog der Zivilgesellschaft, auch Politikern sind darin vertreten, und das ist eine sehr interessante und wichtige, einmal im Jahr stattfindende Konferenz, wo ein Austausch stattfindet."
    Nicht zufällig haben die beiden Autoren für das Buch den Titel "Dreizack und Roter Stern" gewählt. Der Dreizack war das Symbol der Unabhängigkeit der Ukraine seit 1917. Im Spannungsfeld zwischen den national-ukrainischen und den russisch-sowjetukrainischen Bewegungen vor allem seit den 20er-, 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte sich das Land in der Zerreißprobe zwischen zwei Diktaturen. Vieles gibt es noch aufzuarbeiten, zum Beispiel den Holomodor, die Hungersnot in der Jahren 1932/33, und auch den Holocaust, woran jeweils auch Ukrainer beteiligt waren. Die Autoren beschönigen nichts, sie wollen dazu beitragen, das historische Gedächtnis in der Ukraine sorgfältiger als in der Vergangenheit zu untersuchen und zu schärfen.
    Wichtig ist ihr Hinweis, dass es in der Ukraine nicht nur um den Widerstreit zwischen östlichen und westlichen Einflüssen geht, sondern in diesem multiethnischen Gebiet sich fünf Kulturen mischen: die frühchristlich-byzantinisch geprägte Kultur, die türkisch-muslimische Kultur des Osmanischen Reiches, die Steppenkulturen der Mongolen und anderer Nomadenvölker, die slawische Kultur des Ostens und die lateinische Kultur des Westens. Dazu kommen Einflüsse aus dem Baltikum und Skandinavien, aus dem Kaukasus und vor allem aus der jüdischen Kultur.
    Ultranationale in der Ukraine
    Eine stabile Eigenstaatlichkeit mit festen Grenzen zu erreichen, blieb über Jahrhunderte den Ukrainern verwehrt. Deshalb gab es immer wieder patriotische Bestrebungen, für die Einheit und Unabhängigkeit des Landes zu kämpfen. Die Autoren schrecken nicht davor zurück, auch das Problem mit den heutigen Ultra-Nationalisten zu beschreiben, die allerdings nie das Gewicht und den Einfluss hatten, wie es im Westen von manchen gerne behauptet wird. Wolfgang Templin erinnert daran, dass auch Polen in seinem Unabhängigkeitskampf einen harten Weg gehen musste:
    "Man darf nicht vergessen, dass Polen sich dieses Verständnis, diese Anerkennung, in einem jetzt mehrere Dekaden dauernden und gelingenden Reformprozess erarbeitet hat. Man muss sich mal die Urteile, die Stereotypen, die über Polen existierten, ansehen: Polen, dieser Bankert', ‚dieses missratene Konstrukt der Geschichte', dieses ‚Missgeschöpf' - also hier gibt es jeweils in der West- auf Ostperspektive ganz, ganz erhebliche Fehlwahrnehmungen. Und die Ukraine, bei der dieser gelingende Reformprozess noch aussteht, ist momentan damit konfrontiert und wird sich aber diese Anerkennung noch zu erobern haben."
    Für eine historische wie politische Orientierung über die Vorgänge in der Ukraine ist dieses neue Buch von Schubert und Templin eine unverzichtbare Lektüre. Die beiden Autoren haben Hoffnung:
    Schubert: "Da bin ich erst mal optimistisch gestimmt, weil die jetzige prowestliche Regierung alles dafür tut, um wirtschaftliche Reformen, um Gesetzgebungen zu verändern, um die ganz schlechte wirtschaftliche Lage zu verbessern. Das Problem ist nur, dass die Ukraine im Moment in einer sehr sehr unstabilen Lage ist, das heißt, es herrscht Krieg in der Ostukraine, aber getan wird im Moment ziemlich viel."
    Templin: "Wenn es um die innere Situation der Ukraine geht, dann sind das kontinuierliche und forcierte Reformanstrengungen von ukrainischer Seite und eine direkte, und zwar auch kontinuierliche an Reformen geknüpfte finanzielle Unterstützung vonseiten der EU und anderer Finanzorganisationen, jetzt des IWF und anderen - das muss zusammenkommen, alleine kommt die Ukraine nicht auf die Beine, das ist die Hauptaufgabe, dass dies jetzt ineinandergreift."
    Christiane Schubert, Wolfgang Templin: "Dreizack und Roter Stern: Geschichtspolitik und historisches Gedächtnis in der Ukraine"
    Metropol Verlag; 224 Seiten; 19,90 Euro
    ISBN: 9783863312329